Wenn der Chihuahua explodiert
Die Tierpräparatorin Marie kehrt von Wien in die Tiroler Alpen zurück – ihrer Jugendliebe Youni wegen. Elisabeth R. Hagers Roman „Der tanzende Berg“über die Abgründe einer Fremdenverkehrsgemeinde.
Die österreichische Literatur ist nicht arm an Heimkehrern, an Figuren, die ihr Provinznest in Richtung Stadt verlassen, um dann, vom Schicksal – selten vom Heimweh – getrieben, wiederzukommen und an der Enge mit neuer, quasi urbaner Kraft weiter zu leiden. Auch der Antiheimatroman, der parodistisch bis sarkastisch mit den durch Fremdenverkehr reich gewordenen Ortskaisern abrechnet, hat eine lange Tradition. Elisabeth R. Hagers Roman „Der tanzende Berg“reiht sich ein in die Literatur, bei der die österreichische Landschaft als Substrat der touristischen Vermarktung und des Kleingeistes eine tragende Rolle spielt.
Erzählt wird ein Tag im Leben der Radioredakteurin und Tierpräparatorin Marie, die wegen ihrer Jugendliebe Youni nach fünfzehn Jahren in Wien in die Tiroler Alpen zurückgekehrt ist und dort die Werkstatt ihres verstorbenen Onkels übernommen hat. Aufmunitioniert mit gelebter weiblicher Emanzipation und akademischem Diskurs – Foucault! –, steckt sie nun in einer rückständigen, versoffenen Männergesellschaft fest, die sich an die Touristen anbiedert, denen sie den Wohlstand verdankt, der dazu führt, dass die Hotelierstochter It-Girl-Allüren entwickelt und selbst eine Art MärzengrundEinsiedler a` la Felix Mitterer ein Handy hat. Marie zur Seite steht ihre resolute Tante Hella, die nach dem Unfalltod von Maries Eltern zu ihrer Ziehmutter wurde, eine patente Person, die am liebsten Johnny Cash hört, und für Marie die weibliche Kraft verkörpert, von der die Vertreter des Patriarchats nur eine leise Ahnung haben.
Nun kann die fast vierzigjährige Marie die Beziehung nachholen, die sie als Teenager mit dem vor dem Jugoslawienkrieg geflohenen Youni nicht hatte führen können. Sie möchte ihn, der einstmals die Ski fahrende Schickeria mit Koks versorgt hat, selbst kifft und keine Arbeit findet, retten und eine Familie gründen. Doch dann stirbt Youni bei einer Explosion in seiner Wohnung, und Marie trauert wochenlang einsam in der dörflichen Gemeinschaft, die den jungen Mann mit dem sonnigen Gemüt am liebsten sofort vergessen möchte.
Just an dem Tag, an dem sie den lukrativen Auftrag bekommt, den Chihuahua der Tochter des reichsten Hoteliers am Platz – offenbar in Kitzbühel – auszustopfen, steht eine alte Bekannte vor Maries Tür. Ursula gibt sich nicht nur als eine ebenfalls trauernde Freundin von Youni zu erkennen, sondern auch als dessen Geschäftspartnerin beim Verkauf von Marihuana in den Zügen der ÖBB, in denen sie Bistrowägen durch die Gänge schiebt – ein Geschäft, von dem Marie nichts gewusst hat. Ursula möchte eigentlich nur Younis Cannabis-Vorrat abholen, wird nun aber Maries Begleiterin durch diesen ereignisreichen Tag. Mit ihr kann Marie endlich über Youni sprechen und angemessen trauern. Da der ausgestopfte Chihuahua noch am selben Tag um Mitternacht bei der Geburtstagsparty der Hotelerbin als Geschenk überreicht werden soll, wird Ursula von Marie kurzerhand in das Präparationshandwerk eingebunden, über das man in diesem Roman einiges lernen kann.
Dass Marie diesen eigentümlichen Auftrag überhaupt anzunehmen bereit ist, liegt am Boykott durch die örtlichen Jäger, die ihre Trophäen keiner Frau anvertrauen wollen: „Für ein Weibsbild gehört sich das Ausstopfen nicht. Maries Erfahrung war eine andere. Frauen waren näher an der Monstrosität des Lebens, an den Eingeweiden, am Blut, an der Haut. Sie konnten fast umkommen vor Schmerz und kurz darauf einen Menschen gebären, blutverschmiert, winzig und zugleich absolut vollkommen. Überall auf der Welt machten Frauen Grenzerfahrungen, jeden Tag millionenfach. Es sprach nur nie jemand davon.“Mit einem kleinen, aber repräsentativen Ausschnitt aus der hinterwäldlerischen Macho-Gesellschaft sind Marie und Ursula dann auch in dem Gasthaus konfrontiert, in das sie bei ihrer Suche nach einem passenden Stück Holz als Sockel für den Chihuahua geraten. Hier treten neben dem zotteligen, stinkenden, aber philosophischen Eigenbrötler noch andere stehende Typen der kritischen Dorfliteratur auf: der Schullehrer, der Bestatter als die scheinheilige Stimme der katholischen Kirche und der lokale ÖVP-Politiker. Sie zeichnen sich nicht nur durch Frauenverachtung aus, sondern entpuppen sich auch als vorurteilsbehaftete Verhinderer von Younis Fortkommen, haben sie doch dem talentierten jungen Flüchtling nie eine Chance gegeben. Zu seinem Tod haben sie Theorien: Es war ein Unfall bei der Vorbereitung eines Anschlags auf die Kirche – mit dem Namen kann er ja nur Muslim gewesen und radikalisiert worden sein – oder beim Kochen von Meth. „Und da gibt’s doch – das hat mir die Tochter erzählt – so eine Serie, wo ein Chemieprofessor statt zum Arbeiten in seiner Küche Drogen zusammenpantscht“, erklärt der pensionierte Sportlehrer.
Abgründe einer Fremdenverkehrsgemeinde tun sich hier auf, nicht subtil und nicht immer sprachlich überzeugend, da der Dialekt der Figuren aus Rücksicht auf die (deutsche) Leserschaft stark verwässert ist. Stellenweise ist die Gesellschaftskritik zu dick aufgetragen. Die Handlung des erzählten Tages ist unterlegt mit den Erfahrungen des strukturellen Sexismus, unter dem die Protagonistin und ihr Sidekick im ÖBB-Kostüm immer noch leiden, und verquickt mit der Lebensgeschichte des auch nach zwanzig Jahren im Tal und trotz unbedingter Assimilationsbereitschaft nicht akzeptierten Youni aus dem Kosovo. Dazu kommt das Leiden am frühen Verlust der Eltern, an Mobbing und dem Ausverkauf von Grund und Boden, sogar die Flucht einer Transgender-Person aus der Provinz in die Stadt bekommt ein paar Zeilen.
Der Tag wird als Countdown zur Explosion des ausgestopften Schoßhunds erzählt, was man ohne zu spoilern erwähnen kann, da der Roman mit diesem Höhepunkt beginnt. Dass die Demütigungen, die die Tiroler Provinz für Außenseiter parat hält, in dieser Tat kulminieren müssen, die den Berg zum Tanzen bringt, erschließt sich zwar aus der Handlung nicht zwingend, aber „Der tanzende Berg“ist trotzdem ein solider kritischer Heimatroman, unterhaltsam, ohne wohlfeile Ironie, mit manchem Klischee und gelegentlich erhobenem Zeigefinger.
Von Karin S. Wozonig