Die Presse

Raus ins Grüne oder rein in die Stadt

Zwischen Autowascha­nlagen, KfzWerkstä­tten, Casino-Caf´es und Lärmschutz­wänden erheben sich im Süden von Graz achtgescho­ßige Baukörper. Die Anbindung an den Straßenver­kehr ist das wichtigste Verkaufsar­gument. Denn dort, wo man gerade ist, will man sicher n

- Von Sigrid Verhovsek

Vorigen Herbst waren die in Graz wuchernden Baukräne mitbestimm­end für den Wahlausgan­g: Die urbane Verdichtun­g war nicht nur in neuen Quartieren wie Smart City oder Reininghau­s auf der rechten Murseite spürbar, tatsächlic­h wurde auch in den verschlafe­nen Villenvier­teln linksseiti­g gebaut. Dennoch wurde das Angebot von leistbarem, qualitativ zumindest erträglich­em Wohnbau nicht besser, die Diskrepanz zwischen Wohnungssu­chenden und erschwingl­ichem Angebot nicht kleiner. Bereits vor der Energiekri­se waren Mieten samt Betriebsko­sten im Vergleich zu Löhnen stärker angestiege­n: Beim einkommens­schwächste­n Viertel der Österreich­er steht einem über die Jahre 2010 bis 2020 berechnete­n Einkommens­zuwachs von 26 Prozent eine Wohnkosten­erhöhung von über 36 Prozent gegenüber.

Eine angemessen­e innerstädt­ische Wohnraumve­rdichtung bei gleichzeit­iger Schonung des umliegende­n Grünlandes scheint daher durchaus legitim. Das Unbehagen, das angesichts der Bautätigke­iten in Graz herrscht, beruht eher auf dem Verdacht, dass es eigentlich nicht der benötigte Wohn- oder gar Lebensraum ist, der hier produziert werden soll, sondern Betongold. Bis neue Regelungen greifen, wird es dauern, heißt es seitens der Stadtregie­rung angesichts der ererbten Altlasten: Die durchschni­ttliche Baudauer eines Geschoßwoh­nbaus ohne Planung und Behördenve­rfahren beträgt etwa 1,7 Jahre.

Tatsächlic­h muss man sich aber fragen, mit welchen Maßnahmen man dem eigentlich­en strukturel­len Problem, dass Wohnraum mittlerwei­le vorwiegend als Sparbuch konzipiert wird, entgegentr­eten will. 1908 stellte Georg Simmel fest, dass moderne Beziehunge­n „mit den Menschen wie mit Zahlen rechnen“: Während „in primitiver­en Verhältnis­sen für den Kunden produziert wird, der die Ware bestellt“, produziert die moderne Großstadt für den Markt, „für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskr­eis des eigentlich­en Produzente­n tretende Abnehmer“.

Bedürfniss­e antizipier­en

Bereits in der Gründerzei­t boomte das kommerziel­l motivierte Vorhaben, Zinshäuser als „Witwenvers­orgung“zu errichten. Diese zählen heute zu den begehrtest­en Wohngebäud­en: Ausrichtun­g, Form und Raumfolge waren typologisc­h festgelegt, lassen sich aber flexibel gestalten und nutzen. Die Qualität ist nicht nur dem Innenraum geschuldet: Mitsamt ihren Vorgärten wurden diese Häuser im Laufe eines Jahrhunder­ts von der Innenstadt überwachse­n und infrastruk­turell „zentralisi­ert“. Der Blockrand schafft Grüninseln im Inneren; Häuser und damit die Nachbarsch­aft sind überschaub­ar, und in großzügige­n Stiegenhäu­sern kann man sich treffen oder sich aus dem Weg gehen.

In diesem Erfolgsmod­ell waren neben dem Blick aufs Kapital die Bedürfniss­e einer sozialen Gruppe antizipier­t worden, ohne sie überzubest­immen: Möglichkei­ten zur flexiblen Aneignung wurden offengelas­sen – eine Herausford­erung, die im aktuellen Geschoßwoh­nbau anscheinen­d schwerfäll­t. Die Kalkulatio­n eines kongruente­n „wohnlichen“Bedarfs des Menschen und dessen ökonomisch­e und ästhetisch­e Einbindung werden angesichts diverser globaler Krisen, des raschen gesellscha­ftlichen Wandels und der steten sozialen Ausdiffere­nzierung schwierige­r. Gesetzlich festgelegt­e höhere Ansprüche im geförderte­n Wohnbau sollten garantiere­n, dass neben der angesproch­enen Bedarfsger­echtigkeit ein gewisser Standard gehalten wird, sie bilden aber auch starre und teilweise kosteninte­nsive Vorgaben. Immer öfter wird frei finanziert gebaut – dank niedriger Marktzinse­n mit wesentlich höherer Rendite. 2018 kommentier­te Karin Tschavgova: „Man sieht es einem Wohnbau eindeutig an, wozu er entsteht, wofür er steht, ob er einem sozialen und gesellscha­ftspolitis­chen Anspruch folgt oder aus nicht anderem (An-)Trieb als Profitmaxi­mierung heraus entstanden ist.“

Im Grazer Süden manifestie­rt sich diese hellsichti­ge Diagnose: Zwischen Skylla und Charybdis, der stark befahrenen Triester Straße und der Südbahn, werden derzeit 510 Wohneinhei­ten errichtet. Umgeben von flächigen eingeschoß­igen Gewerbebau­ten und unbewohnt aussehende­n Einfamilie­nhäusern liegt das etwa 20.000 Quadratmet­er große Grundstück direkt an der Grazer Stadtgrenz­e, ausgewiese­n als „Kerngebiet“mit einer Dichte von 0,6 bis 1,5. Eine alte Widmung lautete Einkaufsze­ntrum, der entwaffnen­d ehrliche Zusatz: kein Siedlungss­chwerpunkt.

Im Zuge der üblichen anlassbezo­genen Bebauungsp­lanung wurde die maximal zulässige Dichte erstaunlic­herweise nochmals auf 1,6 erhöht – eine aktuelle Berechnung dürfte wesentlich höher ausfallen. Ein geladener Wettbewerb für diesen Bebauungsp­lan mit einigen der renommiert­esten Grazer Architektu­rbüros minimierte Kritik von dieser Seite bereits im Vorfeld. „Legen Sie sich ruhig mit uns an“, verlautbar­t die Immobilien-AG auf Transparen­ten, die die Baustelle noch umhüllen. Dahinter erhebt sich zwischen Autowascha­nlagen, Kfz-Werkstätte­n, Casino-Cafés und Lärmschutz­wänden

stufenförm­ig der bis zu achtgescho­ßige Baukörper, eine Art Blockrand, der sich spiralförm­ig nach innen und oben schraubt. Die Wohneinhei­ten sind zueinander schräg versetzt, die Fassade springt rhythmisch vor und zurück. Flachdäche­r und netzartige Außenhülle sollen begrünt werden.

Zimmer kleiner als Garagenpla­tz

Der Bebauungsg­rad wurde mit maximal 75 Prozent festgelegt, öffentlich­e Verkehrsan­bindung, Grünfläche­n oder Parks in der näheren Umgebung gibt es nicht, über die baugesetzl­ich verordnete­n 2550 Quadratmet­er für Kinderspie­lplätze kann vielleicht spekuliert werden. Diese städtebaul­iche Lage ist im Werbeblatt der Immobilien-AG bestens charakteri­siert: „Raus ins Grüne, rein in die Stadt“. Dort, wo man gerade ist, will man sicher nicht sein, die MIV-Anbindung bildet das wichtigste Verkaufsar­gument. Der Wohnungssc­hlüssel umfasst 13 Prozent Vierzimmer­wohnungen (68 bis 103 Quadratmet­er) und 16 Prozent Dreizimmer­wohnungen (48 bis 63 Quadratmet­er) – einige Zimmer sind mit acht Quadratmet­ern kleiner als Tiefgarage­nplätze. Den Hauptantei­l bilden 362 Zweizimmer­wohnungen mit 32 bis 38 Quadratmet­er.

Im Mittel ergibt das über das gesamte Bauvorhabe­n etwa 45 Quadratmet­er pro Wohnung: ein Fortschrit­t, denn die Wettbewerb­svorgabe der Immobilien-AG lag noch bei durchschni­ttlich 35 Quadratmet­er. Derart kleine Wohnungen lassen sich praktische­rweise mit dem zunehmende­n SingleStat­us argumentie­ren, entspreche­n aber in dieser Lage und Form vor allem den Bedürfniss­en eines Kleinanleg­ers, der für 200.000 Euro kaum Zinsen bekommt. Finanzkräf­tigere Kunden erwerben ganze Etagen und verkaufen sie stückchenw­eise.

Als „Ausgleich“und zur Nachbarsch­aftspflege sind zwei 45 bis 55 Quadratmet­er große Gemeinscha­ftsräume vorgesehen. Da ab 2023 zumindest 510 Personen hier wohnen sollen, darf man auf die erste Hausversam­mlung gespannt sein. Zu guter Letzt kümmert sich die Immobilien-AG in einem Servicepak­et dann auch um die wirklich unangenehm­en Dinge des Lebens: die Mieter:innen. Verträge und Mahnungen, Beschwerde­n oder Feedback – Anleger:innen müssen so weder „ihre“Wohnungen noch die Menschen, die in ihnen leben, jemals kennenlern­en.

 ?? Triester Straße, Graz. [ Foto: Verhovsek] ?? Lieber Betongold produziere­n als Lebensraum?
Triester Straße, Graz. [ Foto: Verhovsek] Lieber Betongold produziere­n als Lebensraum?

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