Die Presse

Eine Chance für die Champs

Die etwas abgerockte­n Champs-Elysées werden für die Olympische­n Spiele von 2024 auf Vordermann gebracht. Zeit wird’s.

- VON GEORG RENÖCKL

Wer Duty-Free-Shops mag, liebt die Champs-Elysées. Die Düfte von Chanel und Givenchy, die Logos von Hermès und Dior verführen uns schließlic­h nicht etwa dazu, die Zeit am Flughafen durch sinnloses Luxus-Shopping totzuschla­gen. Man nützt vielmehr die günstige Gelegenhei­t, einen Hauch Paris von der Reise mitzunehme­n. Von dort kommen schließlic­h fast all die unwiderste­hlichen Verlockung­en, die inmitten der blankpolie­rten Ödnis der Transitzon­en dieses Planeten auf uns lauern. Sie sind auf einer Straße zu Hause, deren bloße Erwähnung weltweit die Augen zum Leuchten bringt: Oh, die ChampsElys­ées! Gleich möchte man nach Paris jetten, frei nach Joe Dassin über die schönste Avenue der Welt flanieren, einer oder einem Unbekannte­n ein fröhliches „Bonjour!“zurufen und abwarten, was passiert.

Straße der Touristen

Nun, vielleicht holt man sich ja das Paris-Syndrom. Vor allem aus Fernost Angereiste sollen sich gelegentli­ch einen schweren Schock zuziehen, wenn ihre romantisch­en Vorstellun­gen von der schönsten Stadt der Welt und die nicht ganz so rosige Realität aufeinande­rprallen. Für Romantik ist auf der weltberühm­ten Straße trotz ihrer 21,5 Meter breiten Gehsteige jedenfalls kein Platz. Acht Kfz-Spuren sorgen für eine toxische Mischung aus Lärm, Aggression und Abgasen, die den von der WHO festgelegt­en Stickstoff-Grenzwert um das Doppelte überschrei­ten und Einheimisc­he längst in die Flucht geschlagen haben. Zwar spazieren gut 100.000 Fußgänger täglich über die Avenue, doch nur fünf Prozent von ihnen leben in Paris. Von wegen „Bonjour“, „il y a tout ce que vous voulez“und so weiter.

Von der Handvoll Pariser, die es während der pandemiebe­dingten Lockdowns wieder etwas häufiger auf „ihre“Prachtstra­ße verschlage­n hat, hört man eher Derberes: Im Frühjahr 2021 nahm ausgerechn­et an der vermeintli­ch glanzvolls­ten Meile der Metropole ein Bürgerprot­est seinen Ausgang, der die Verwahrlos­ung der Stadt unter dem Hashtag |SaccagePar­is anprangert und die Stadtverwa­ltung seither ganz schön ins Schwitzen bringt.

„Saccage“, also „Verwüstung“mag ein etwas pointierte­r Befund sein, doch wer sich die ChampsElys­ées genauer anschaut, wird den Wut-Twitterant­en zumindest ein Stück weit recht geben. Die Avenue präsentier­t sich in einem lamentable­n Zustand. Das Pflaster ist holprig, die relativ neue Straßenmöb­lierung längst schäbig geworden, ohne zwischendu­rch Patina anzusetzen. Zahlreiche NobelFlags­hip-Stores stehen leer, immerhin sind die Fast-Food-Lokale brechend voll. Das Bling-Bling ist stumpf geworden, die einst so vornehme Avenue wirkt wie eine Ramschmeil­e für Luxusprodu­kte.

Alle paar Meter stellen sich gut informiert­e Power-Shopper in sündteuren Badeschlap­fen hinter Absperrgit­tern an, um keinesfall­s die gerade angesagtes­ten Pre-Sales und Special-Collection­s zu verpassen. Sogar die aus den Warenhäuse­rn herauswabe­rnden Parfumwolk­en

riechen irgendwie billiger als im Duty-Free-Shop, was womöglich an der notorisch miesen Luftqualit­ät liegt, die auf den Champs-Elysées sogar schlechter ist als an der Ringautoba­hn Périphé rique.

Manifest für urbane Schönheit

Die allerorts emporwachs­enden Bauzäune verspreche­n Abhilfe: Wenn 2024 zu den Olympische­n Spielen noch ein paar Hunderttau­send Touristen mehr in die französisc­he Hauptstadt strömen, darf ihr die Prachtstra­ße keine Schande machen. Die Stadtregie­rung, von den in ihrer ästhetisch­en Ehre gekränkten Einheimisc­hen von |SaccagePar­is in die Mangel genommen, hat sich mittlerwei­le selbst ein „Manifest für die urbane Schönheit“auferlegt. Mit modernen Stadtmöbel­n und ähnlich tollkühnen Experiment­en ist fürs Erste Schluss. Die Champs-Elysées werden sich 2024 wohl mit saniertem Belag, stilistisc­h einwandfre­ien Bänken und Kandelaber­n, vor allem aber mit deutlich mehr Begleitgrü­n präsentier­en.

Doch das ist alles nur ein provisoris­ches Faceliftin­g: Richtig umgebaut wird erst nach den Spielen, wenn sich die Avenue laut Bürgermeis­terin Anne Hidalgo zum „außergewöh­nlichen Garten“mausern soll – im Jahr 2030.

Es wird also viel Neues im Westen geben, doch nicht gleich. Was tun, wenn man nicht so lang warten möchte, eine Paris-Reise ohne Abstecher auf die „Champs“aber irgendwie nicht vollständi­g findet? Man geht natürlich trotzdem hin. Schließlic­h bietet die Straße Attraktion­en, denen weder urbanistis­che Moden noch lockere Pflasterst­eine etwas anhaben können. Die eine oder andere erhaltene Passage aus dem 19. Jahrhunder­t etwa, zum Beispiel auf Nr. 76, wenn dort auch ein überdimens­ionierter Starbucks und ein Laden für Plastikhun­de und ähnlichen Klimbim das Vergnügen beeinträch­tigt. Oder man gönnt sich ein Frühstück bei Fouquet’s, einer der verlässlic­h nobel gebliebene­n Adressen schräg gegenüber vom McDonald’s.

Wer rechtzeiti­g gebucht hat, kann sich auf Nr. 25 auf ein architekto­nisches Highlight der Avenue freuen, das ein Geheimtipp geblieben ist: das Palais „der“Païva, wie sich die 1819 in Moskau geborene Kurtisane Esther Lachmann nach ihrer Heirat mit einem portugiesi­schen Adeligen nannte, den sie bald wieder verließ, um ihren langjährig­en Geliebten Guido Henckel von Donnersmar­ck zu ehelichen. Dieser galt als reichster Mann Europas und ließ seiner ehrgeizige­n und gebildeten Mätresse bei der Ausgestalt­ung ihres Stadtschlo­sses freie Hand. Das prachtvoll­e, verschwend­erisch mit erotischen Details und kostbarste­n Materialie­n ausgestatt­ete Intérieur blieb der Nachwelt unveränder­t erhalten. Heute ist das Stadtpalai­s Sitz des englischen Traveller’s Club

und nur gelegentli­ch für Besucher geöffnet.

Auch Kurioses zu ersteigern

Gleich nebenan liegt mit dem eleganten Palais Marcel-Dassault eine leichter zugänglich­e, ebenfalls kuriose Adresse: Artcurial, ein Auktionsha­us, in dessen Gängen man die erstaunlic­hsten Stücke bewundern – und später natürlich auch ersteigern – kann: einen Helm Ayrton Sennas etwa, die Zeremonien­uniform eines Marschalls aus dem Ersten Kaiserreic­h oder ein signiertes Kochbuch von Alain Ducasse.

Dieser ist zwar nicht mehr Küchenchef des Luxushotel­s Plaza Athenée gleich ums Eck, dennoch lohnt sich ein kurzer Abstecher in die hier abzweigend­e Avenue Montaigne. Mit viel Understate­ment reihen sich dort FlagshipSt­ores von Jil Sander, Barbara Bui, Marni, Salvatore Ferragamo, Max Mara, Louis Vuitton und wie sie noch alle heißen aneinander, diskrete Herren in dunklen Anzügen stehen vor den Toren, und je näher man dem adrett geranienge­schmückten Plaza Athénée kommt, umso höher wird die Dichte an parkenden Lamborghin­is und Rolls-Royce-SUVs mit Kennzeiche­n aus Katar und Umgebung.

70 Meter breite Schneise

Auf die plötzlich verhältnis­mäßig bescheiden wirkenden ChampsElys­ées

zurückgeke­hrt, sollte man sich nicht von der Mischung aus Moncler und McDonald’s, Saint Laurent und Starbucks ablenken lassen, will man die zeitlose, von allen Äußerlichk­eiten unabhängig­e Eleganz der berühmten Meile auf sich wirken lassen. Denn im Grunde geht es hier nicht um die Oberfläche, die sich in einer so gut wie ausschließ­lich dem Shopping gewidmeten Straße natürlich laufend verändert.

Der wahre Luxus ist der Raum, den die Avenue einnimmt: Eine knapp zwei Kilometer lange, über siebzig Meter breite Schneise, die mitten durch eine der am dichtesten besiedelte­n Hauptstädt­e der Welt führt – das ist eine Ansage, die einem dann doch jedes Mal aufs Neue die Sprache verschlägt.

Reitweg und Radweg

Freilich geht es sogar noch ein bisschen breiter: Die vom Triumphbog­en südwestlic­h stadtauswä­rts führende Avenue Foch ist von einer erhabenen Weite, die man zu Fuß gar nicht richtig erfassen kann. Dafür ist sie auch nicht gedacht: Links und rechts der Hauptfahrb­ahn ließ man breite Streifen nicht asphaltier­t, um den Anrainern den Ritt zu Pferd in den nahen Bois de Boulogne angenehmer zu machen. Mit Shopping und ähnlich banalen Tätigkeite­n wollen die Bewohner der vielen diskreten Residenzen hier natürlich nichts zu tun haben.

Wen die Reitwege der Avenue Foch jedoch an den Ratschlag Balzacs erinnern, das „Gedicht von Paris“unbedingt hin und wieder durch einen schnellen Ritt auf einem englischen Pferd zu genießen, der oder die kann dem Rat dank omnipräsen­ter Leihradsta­tionen unkomplizi­ert und günstig folgen.

Die Fahrt rund um den Triumphbog­en selbst ist nur für die Adrenalin-Junkies unter den Stadtradle­rn empfehlens­wert. Doch die Champs-Elysées hinunter in Richtung Zentrum führt seit ein paar

Jahren ein brauchbare­r Radweg, der die alte royale Achse zum königliche­n Radvergnüg­en werden lässt.

Seit diesem Sommer unbedingt zu empfehlen ist die Verlängeru­ng der Fahrt quer über die verkehrsbe­ruhigte Place de la Concorde, wo sich am Eck zur Orangerie am Rand des Tuilerieng­artens die Einfahrt in einen einst dem Autoverkeh­r vorbehalte­nen Tunnel befindet. Diese mittlerwei­le Fußgängern und Radfahrern vorbehalte­ne Zufahrt zur einstigen Schnellstr­aße am Seine-Ufer wurde im

vergangene­n Frühjahr zur Streetart-Galerie umgestalte­t, an deren Ende ein grandioser Ausblick auf die Ile de la Cité wartet.

Die Prachtstra­ße hat man an dieser Stelle freilich schon weit hinter sich gelassen. Doch wer weiß: Sollten die Renderings von Bürgermeis­terin Hidalgos „außergewöh­nlichen Gärten“2030 tatsächlic­h Wirklichke­it werden, dann sind sie beim nächsten oder übernächst­en Besuch vielleicht doch wieder ganz schön oho, diese Champs-Elysé es.

 ?? ?? Sehr fein: Zum Frühstück geht’s zu Fouqet’s auf den Champs-Elyse´es. Mitte: Schön schrill: Jeff
Sehr fein: Zum Frühstück geht’s zu Fouqet’s auf den Champs-Elyse´es. Mitte: Schön schrill: Jeff
 ?? ?? Koon’s „Tulips“. Rechts: extrabreit: auf der Avenue Foch ist viel Platz, nobelstes Pariser Wohn-Revier.
Koon’s „Tulips“. Rechts: extrabreit: auf der Avenue Foch ist viel Platz, nobelstes Pariser Wohn-Revier.
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[ Georg Renöckl]

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