Den Pensionsantritt als Neuanfang begreifen
Die Generation der Babyboomer steht kurz davor, den Ruhestand anzutreten. Doch viele wollen davon nichts wissen.
Wer sich nicht fordert, gibt sich auf“, sagt Leopold Stieger, Gründer der Gesellschaft für Personalentwicklung (GfP) und Seniors4Success. Die Plattform dient dazu, Menschen aufzuwecken, wie er sagt, um sich im hohen Alter nicht in der Hängematte auszuruhen, sondern sich neuen Herausforderungen zu stellen. Der 83-Jährige ist davon überzeugt, dass es zum Menschen dazugehört, zu arbeiten. Und damit ist er nicht allein, wie die vom Unternehmen beauftragte Blitzumfrage unter 611 Befragten zeigt: 56 Prozent wären dazu bereit, länger zu arbeiten. Jedoch klagt ein Viertel darüber, bereits fünf Jahre vor Pensionsantritt keine Weiterbildungsangebote mehr in Aussicht gestellt bekommen zu haben. Die Verantwortung dafür, diese Situation zu verbessern, sagt Stieger, liegt auf beiden Seiten: Jede Führungskraft habe ein Stufensystem aufzubauen, um ältere Personen nicht von einer Vollauslastung in einen Stillstand sinken zu lassen und Potenziale auch im höheren Alter zu nutzen. Arbeitnehmer wiederum sind gefordert, weder „an ihren Fähigkeiten zu zweifeln, noch ihr Hirn abzugeben“, appelliert er.
Schließlich steige auch die Lebenserwartung: In Wien hat sich die Zahl der über 100-Jährigen in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt, wie aktuelle Zahlen des Melderegisters zeigen. Die Anzahl der Menschen, die über 100 Jahre alt werden, stieg von 188 im Jahr 2002 auf 427 Personen im heurigen November. Diese Entwicklung treibt auch politische Entscheidungsträger an, zu handeln. Erst am Dienstag sprach sich Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher im ORF-„Report“dafür aus, neue Anreize zu schaffen, um über das Pensionsantrittsalter hinaus weiterzuarbeiten. Eine Möglichkeit sei, die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Denn: Wer länger arbeitet als gesetzlich vorgesehen, sollte auch mehr Geld verdienen, sagt Kocher.
Alterungsprozess entschleunigen
Der Verdienst allein sei für viele jedoch nicht entscheidend, ist Kathrin Rauscher überzeugt. Die pensionierte Gesundheitsund Krankenpflegerin hat ab ihrem 60. Lebensjahr damit zu kämpfen gehabt, plötzlich „in der Luft zu hängen“, wie sie sagt, und empfand es als Belastung, zum vermeintlich „alten Eisen zu gehören“. Doch ihr Arbeitgeber – das Generationen-Café Vollpension – half ihr dabei, den Alterungsprozess zu entschleunigen. Einer anspruchsvollen Beschäftigung nachzugehen sei wichtig, sagt sie, und erzählt davon, wie es ihr gelingen muss, parallel auf Gästeanfragen zu reagieren, sich mit den Mitarbeitenden abzustimmen und zu backen. Das klingt für den einen oder anderen vielleicht simpel, aber wenn man bei der Dosierung unterbrochen wird, kann einiges schiefgehen. Man werde gefordert, ohne dabei Druck zu spüren, sagt sie, denn es stehe ihr frei, selbst zu priorisieren und in ihrem Tempo zu arbeiten. Und genau damit – dem Arbeiten – aufzuhören sei für sie nie infrage gekommen. So hätte sich die heute 65-Jährige auch vorstellen können, wieder in die Altenpflege einzusteigen. Doch im Café werde es allen Mitarbeitenden ermöglicht, individuelle Vorschläge zu äußern und umzusetzen. Durch die Beschäftigung sei sie jünger geblieben und habe gelernt, mehr zu teilen: ihre Rezepte und Erfahrungen. Neben Freunden würden sich auch Familienmitglieder erkundigen, wie Backkurse oder Kooperation abgelaufen sind. Selbst ihr – wie sie sagt, kritischer – Bruder habe sie darauf angesprochen, dass sie seit der Anstellung „an Charisma gewonnen habe“, sagt die Niederösterreicherin und schmunzelt. Es sei notwendig, einen strukturierten Alltag beizubehalten und im sozialen Austausch zu bleiben, der sie jede Woche aufs Neue motiviert, den Dienst anzutreten. Doch trotz der wertschätzenden Unternehmenskultur sucht selbst das beliebte Kaffeehaus aktuell nach Personal: von Buchtel-Backomas über Opas vom Dienst bis zu Service-Mitarbeitenden.
Apropos Personal: Um Unternehmen und pensionierte Arbeitnehmer zusammenzubringen, bemüht sich auch der Austrian Senior Experts Pool (Asep), Mentorings anzubieten, zu vernetzen und einen Austausch zwischen Jung und Alt zu schaffen. Die Plattform, ursprünglich vor 30 Jahren als Zweigverein des Wirtschaftsforums der Führungskräfte (WdF) gegründet, reagiert auf den Wunsch von Führungskräften und Managern, ihr Wissen weiterzugeben und gefordert zu bleiben. Mit Erfolg: „Wir nutzen insbesondere das bestehende Netzwerk, um neue Kunden zu akquirieren. Viele von uns sind im Social Banking der Erste Bank oder dem Unternehmensgründerprogramm des AMS tätig“, sagt Asep-Präsident Gerhard Hirt. Ihm gehe es darum, Verbindungen zu schaffen, um Senioren die Chance zu geben, ihren Kompetenzbereich zu erweitern und Unternehmen unter anderem bei Personalmangel zu unterstützen. Er selbst wirke als ehemaliger Controller einer Großbank aktuell als externer Berater im Controlling für einen Mittelbetrieb mit.
Mehr Anerkennung für mehr Leistung
Die größte Herausforderung sei einerseits, merkt Asep-Vorständin Gertrude Eder an, den Verein „jung und frisch zu halten“. Hier steuere man bereits mit Projektgruppen im Bereich Nachhaltigkeit und Digitalisierung entgegen. Und andererseits, sich rechtfertigen zu müssen, auch im höheren Alter noch zu arbeiten. „Ich selbst habe nach der Pensionierung
noch einen Managerjob angenommen und musste mich dafür erklären, dass ich nicht lieber meine Füße hochlagern möchte. Diese Denkweise ist leider zu weit verbreitet“, sagt sie.
Um dies zu ändern, sei der Gesetzgeber gefordert, den längeren Durchrechnungszeitraum bei der Steuerpflicht zu bedenken. Denn: „Man leistet nicht nur einen Beitrag zur Volkswirtschaft, sondern man spart den Staat auch etwas, wenn man länger körperlich und geistig fit bleibt“, sagt Eder und meint damit im Grunde, mehr spürbare Anerkennung
für mehr Leistung zu bekommen. Auch der Arbeitgeber sei gefordert, den Mitarbeitenden nicht als Kostenfaktor zu sehen, sagt Hirt. Er sei in der Verantwortung, das Know-how zu schätzen.
Um dem Argument der (zu) hohen Personalkosten entgegenzuwirken, sei auch bei sukzessiv geringerer Auslastung das Gehaltsschema zu überdenken. Man solle schließlich nicht für Seniorität bezahlt werden, sagt er. Viele würden gern weniger arbeiten, aber nicht direkt aufhören. Eder ergänzt: „Stufenweise Übergänge täten Unternehmen und Einsteigern gut“, denn auch die Jungen würden die Chance bekommen, nicht alles neu zu erlernen und sich mit Fragen direkt an jemanden wenden zu können.
Alter(n)sbilder neu konstruieren
Insgesamt müsse es gelingen, mit Altersbildern aufzuräumen und Denkmuster aufzubrechen, sagt Vera Gallistl vom Kompetenzzentrum Gerontologie und Gesundheitsforschung der Karl-Landsteiner-Universität: „Alter(n)sbilder wirken auf unsere Verhaltensweisen im Umgang mit älteren Menschen prägend.“Doch es gehe darum, zu sehen, dass das Älterwerden nicht nur mit Einschränkungen einhergeht.
Es sei nicht der Abschluss des Lebens, in Pension zu gehen, sondern eine eigenständige Lebensphase von etwa zehn bis 20 Jahren nach der Erwerbstätigkeit, in der neue Rollen und Ziele umgesetzt werden können. Im Umgang sollte man sich fragen: „Welchen Beitrag kann ich leisten, um Inklusion zu verwirklichen?“Und: „Was kann ich von meinem Gegenüber lernen?“