Die Presse

Schneller und besser ohne Neymar?

Wer ersetzt den Superstar? Der Kader des Titelfavor­iten strotz nur so vor hochklassi­gen Alternativ­en. Vor allem: Ohne Neymar kann die Sele¸c˜ao ihren großen Trumpf ausspielen.

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Doha. Eine Seleça˜o ohne Neymar, das weckt in Brasilien sofort böse Erinnerung­en: Das letzte Mal, als der Superstar eine WM-Partie verletzt verpasst hat, setzte es ein historisch­es 1:7-Debakel gegen Deutschlan­d (2014). Allerdings hatte Neymar auch später mit Verletzung­en zu kämpfen, eine Knöchelble­ssur etwa setzte ihn für die komplette Copa América 2019 außer Gefecht – und da holte Brasilien bekanntlic­h den Titel.

Droht durch das Fehlen des 30-Jährigen gegen die Schweiz – er hatte beim Auftaktsie­g über Serbien eine Bänderverl­etzung erlitten – also Ungemach? Oder kann Brasilien daraus vielleicht sogar einen Vorteil ziehen? Vor allem: Wer ersetzt ihn? Und wie?

Nach wie vor gibt es bei den Südamerika­nern niemanden, der wie Neymar mit einer winzigen Bewegung ganze Spielverlä­ufe drehen kann. Auch an Genialität und Extravagan­z ist ihm kein anderer Brasiliane­r ebenbürtig. „Diese großen Talente können zwei- oder dreimal auftauchen und den Unterschie­d machen. Das ist es, was Neymar für uns tun kann“, meinte Teamchef Tite. Sein Starspiele­r ist mit 75 Toren inzwischen der zweitbeste Torschütze Brasiliens, nur zwei Treffer fehlen auf den Rekord von Pelé. Und dennoch: Die Seleça˜o ist bei Weitem nicht mehr so abhängig von Neymar wie das in jüngerer Vergangenh­eit der Fall war. Gerade deswegen ist sie auch stärker denn je.

Teamchef Tite hat heute also zahlreiche Möglichkei­ten, immerhin hat er gleich neun Angreifer mit nach Katar genommen. „Ich hätte noch sechs oder sieben andere Spieler nominieren können“, erklärte der 61-Jährige. „Ich bin sehr entspannt.“Tatsächlic­h verfügt keine andere Mannschaft über eine solche Offensivau­swahl.

Im ersten Gruppenspi­el gegen Serbien agierte Neymar meist als

eine Art zweite Spitze hinter Doppeltors­chütze Richarliso­n. Als er dann nach 79 Minuten verletzt vom Platz musste, schickte Tite kurzerhand den im Sommer für fast 100 Millionen Euro von Manchester United verpflicht­eten Antony auf diese Position. Den 22-jährigen Hochgeschw­indigkeits­dribbler aber plagen seit einigen Tagen Magen-Darm-Probleme. Doch auch das sollte kein Problem sein.

Schließlic­h spielt der 21-jährige Rodrygo gerade eine starke Saison für Champions-League-Sieger Real Madrid. Würde er für Neymar übernehmen, kann das Angriffstr­io Raphinha, Vin´ıcius Jú nior und Richarliso­n ebenso unveränder­t bleiben. Vor allem: Rodrygo wurde schon gesichtet, wie er beim Mannschaft­straining in Katar auf Neymars Spielmache­r-Position agierte. Auch Barcelonas Raphinha, 25, wird diese Rolle zugetraut.

Dann würde Rodrygo wohl auf den Flügel ausweichen.

Zu einem Einsatz eines anderen aufstreben­den Brasiliane­rs würde dessen aktuelle Form berechtige­n: Der 21-jährige Gabriel Martinelli stürmte in den Wochen vor der WM mit dem FC Arsenal fast unaufhalts­am durch die englische Premier League. Gemeinsam mit Arsenal-Angreifer Gabriel Jesus, 25, der gegen Serbien eingewechs­elt wurde und sich ebenfalls noch anbietet.

Die Sache mit dem Spielfluss

Tites Entscheidu­ng hängt auch davon ab, wie viel Respekt er vor der Schweiz hat. Immerhin haben die Eidgenosse­n bei der EM im Vorjahr Topfavorit Frankreich verabschie­det. Die defensiver­e Variante wäre demnach, mit Fred (Man United) oder Bruno Guimara˜es (Newcastle United) als Neymar-Ersatz das Mittelfeld zu stärken.

Im Spiel selbst birgt der Neymar-Ausfall ohnehin Chancen. Gegen Serbien hatte sich dieser nicht nur einmal in unnötigen Dribblings verzettelt und damit Angriffe seiner Mannschaft verzögert. Aber nicht nur damit stört er unfreiwill­ig den Spielfluss: Neymar zog auch die meiste Aufmerksam­keit der Verteidige­r auf sich, die ihn von Beginn an mit Härteeinla­gen stoppten. Neun Mal wurde er gefoult, öfter als jeder andere Spieler in der ersten Runde der Gruppenpha­se. Ohne Neymar steigen also die Chancen der Brasiliane­r auf ein schnellere­s, flüssigere­s Offensivsp­iel – ihre eigentlich­e Stärke.

Dass Neymar zumindest nach der Vorrunde wieder zurückkehr­t, gilt inzwischen als einigermaß­en gesichert. Teamkolleg­e Marquinhos berichtete: „Er ist sehr fokussiert, er schläft in der Physiother­apie und lässt sich 24 Stunden am Tag behandeln.“(joe)

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[ AFP/Jewel Samad ] Ob sein Ausfall gar eine Chance für die Selec¸a˜o sein könnte? Brasilien stellt sich die Neymar-Frage.

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