„Was wir gerade erleben, ist eine Spaltung der Welt“
Warum sich Europas Fußballverbände in der Katar-Frage überschätzen und der Einfluss der arabischen Welt im Sport noch größer wird. Ein Gespräch mit Politikwissenschaftler Danyel Reiche.
Die Presse:
Die Kritik an dieser Weltmeisterschaft reißt nicht ab. Wird sie für Katar am Ende denn überhaupt der erhoffte Erfolg?
Danyel Reiche: Sie ist auf ihre Art und Weise schon ein Erfolg. Die Stadien sind voll, die Stimmung ist gut. Aber die kritische Debatte in Teilen der westlichen Welt hält an. Was wir gerade erleben, ist eine Spaltung der Welt. In Asien, Südamerika und in Afrika gibt es kein Land, in dem diese Debatte so geführt wird wie etwa in Deutschland. Deswegen hat Fifa-Präsident Infantino auch diese Rede gehalten. Er weiß genau, dass Deutschland, England und die Skandinavier, also jene, die Widerstand üben, am Ende des Tages eine Minderheit darstellen.
Nimmt sich Europa in der KatarFrage also zu wichtig?
Ich sehe das so, ja. Der DFB ist der größte Fußballverband der Welt, aber unterm Strich gibt es ein fehlendes Reflexionsvermögen in Westeuropa, das in einer Minderheitenposition ist. Um Veränderungen herbeizuführen, müsste der kritische Westen Allianzen mit dem globalen Süden bilden. Aber: Der Großteil der Welt ist ziemlich glücklich mit dieser WM. Infantino meinte ja auch, es werde die beste WM aller Zeiten werden. Die TVQuote mag in Deutschland oder Österreich schlechter als sonst sein, aber wie sieht es in den anderen Ländern aus? Ich denke, die Fifa wird nach dieser WM Rekordzahlen veröffentlichen.
Gut möglich. Vielleicht auch, weil die WM im globalen Süden ja im Sommer stattfindet. Auch diese Winter-WM war Europa lang ein Dorn im Auge.
Diesmal können die Brasilianer und Südafrikaner einmal eine WM mit Barbecue im Garten schauen. Dieser Kritik entspringt schon ein gewisser Eurozentrismus.
Ist die Fifa in der Binden-Causa dem Druck Katars erlegen?
Homosexualität ist in Katar verboten, aber ich weiß nicht, ob der Druck Katars in dieser Frage entscheidend war. In dem Moment, in dem die Fifa die „One Love“-Armbinde freigibt, hast du vielleicht eine andere Mannschaft, die mit einer Palästina-Binde auflaufen will. Wie die Armbinde aussehen darf, legt die Fifa fest. Sie hat in dieser Frage ein Exempel statuiert. Zumindest aus europäischer Sicht ist dennoch so vieles an dieser WM in Katar falsch. Der
Langzeitplan des Emirats aber scheint zu funktionieren.
In den Achtzigerjahren kannte kein Mensch Katar. Jetzt kennt jeder Katar. Das Land will Sichtbarkeit schaffen und bedient sich vieler Säulen: des Sports, der Energiesicherheit, des TV-Senders al-Jazeera, Qatar Airways. All diese Verbindungen zum Rest der Welt dienen einer Sache: der nationalen Sicherheit. Katar ist gesandwicht zwischen zwei großen Ländern. Und es gibt nicht wenige, die glauben, dass die Saudis hier in den vergangenen Jahren einmarschiert wären, gäbe es diese WM nicht. Es geht Katar nicht nur um das Reinwaschen der Reputation, sondern ganz stark um Sicherheit und Einfluss.
Sie leben in Katar. Nehmen sich die Katarer die Kritik aus Europa zu Herzen? Sind sie gekränkt?
Wenn ich mich mit meinen katarischen Studierenden unterhalte, dann wird diese Kritik von ihnen als ungerecht empfunden. Und sie erkennen eine Doppelmoral. Vom Sport wird diesbezüglich ja etwas verlangt, was in anderen Bereichen gar nicht umgesetzt wird.
In drei Wochen ist die WM vorbei, dann zieht die Karawane weiter. Wird man in zwei, vier, zehn Jahren noch darauf achten, was in Katar passiert?
Das Brennglas wird sich allein wegen des Sports weiter auf Katar richten. In den nächsten zehn Jahren finden hier Formel-1-Rennen statt, 2023 die Fußball-Asienmeisterschaft, 2030 die Asienspiele. Das Land wird den Reformpfad weiter beschreiten. Es ist einiges besser geworden, aber Veränderung braucht Zeit. Du kannst über Nacht eine Infrastruktur entwickeln, aber keine Kultur verändern.
Wenn das kleine Katar es schafft, eine Fußball-WM zu bekommen, wird das nicht auch das Interesse größerer Nachbarn wecken?
Bestimmt. Die Saudis stehen schon in den Startlöchern. Sie haben gesehen, dass sie nicht nur auf Hard Power setzen können – und jetzt kopieren sie Katar, das sich mit Sport lang von den Nachbarstaaten abgesetzt hat. Saudiarabien hat schon den spanischen und italienischen Supercup ausgetragen, investiert jetzt massiv in Golf. Eines ist klar: Es werden in dieser Region künftig nicht weniger, sondern mehr Sportevents stattfinden.
Irgendwann dann auch Olympische Spiele?
Diese Debatte wird kommen. Vielleicht sogar im Verbund einiger Golfstaaten.