Bevor wir in Wien wieder die Klassikführung übernehmen
Längst glaubt die ganze Welt zu wissen, wie Musik zu Haydns und Mozarts Zeit geklungen hat. Es wäre an der Zeit, wieder darüber zu streiten.
Gebt doch zu, Haydn hat „große“Symphonien geschrieben!
Am kommenden Wochenende ist es wieder einmal so weit: Im Wiener Konzerthaus gibt es zwei Abende, die ausschließlich Musik von Joseph Haydn gewidmet sind. Paavo Järvi musiziert mit der Bremer Kammerphilharmonie drei der Londoner Symphonien.
Ein solch puristisches Haydn-Programm stellt leider auch in Wien eine Rarität dar. Der Name des Komponisten wird zwar gern in einem Atemzug mit Mozart und Beethoven genannt. Aber das verrät die bildungsbürgerliche Theorie. Aufgeführt wird wenig aus Haydns Feder, ist doch ein weiter Teil des Schaffens dieses Komponisten im wahrsten Sinne des Wortes Kammermusik, ja „Hausmusik“, alles andere als für den großen Konzertsaal gemacht. Der war zu Lebzeiten Haydns noch gar nicht erfunden.
Tatsächlich sind aber seine späten Symphonien, für Paris und London bestimmt, Vorboten dessen, was ein halbes Jahrhundert später zur Regel werden sollte: Musik für die Wiedergabe in großen Räumen, von großen Orchestern gespielt. In diesem Sinn sind Aufführungen durch etwelche „Kammerphilharmonien“in großen Sälen wie jenem des Konzerthauses schon pervers genug – endlich wird Haydn gespielt, aber in einer klanglichen Dimension, die den Willen des Komponisten grob verfälscht.
Das beruht auf einem Missverständnis der Originalklanggeneration, gut gemeint, aber grundfalsch – und mitverantwortlich dafür, dass unsere traditionellen Orchester so wenig Haydn (mittlerweile sogar auch Mozart) ins Programm nehmen wie die weltreisenden Kollegen, die aus aller Herren Länder anreisen, um mit Mahler und Schostakowitsch Furore zu machen. Nebeneffekt: Ihre Dirigenten scheitern, sobald sie Chefpositionen einnehmen, an ihrer notorischen Unfähigkeit, Werke der Klassiker angemessen zu realisieren.
Es wäre eine historische Tat, würden die großen Wiener Orchester auf Tourneen gegen den Stachel des Zeitgeists aufgeigen und konsequent Mozart und Haydn in historisch wirklich adäquaten Besetzungen aufführen. Geleitet von jenem Brief, den Mozart begeistert über die Aufführung seiner Pariser Symphonie im Wiener Burgtheater schrieb: 40 Violinen und zwölf Kontrabässe – die Bläserstimmen verdoppelt oder sogar verdreifacht!
Das Auditorium des alten Burgtheaters war kleiner als der große Konzerthaus-Saal! Dennoch wird man dort, wir dürfen wetten, Haydn auch diesmal nicht einmal ein Drittel der erwähnten Besetzung zugestehen. Wie effektvoll und groß diese Musik einst geklungen haben muss – auch die Pariser und Londoner Orchester Haydns waren riesig besetzt! –, werden wir noch lang nicht erfahren. Ihre Verve, ihr Geist lassen sich freilich auch en miniature genießen . . .