Die Presse

Bevor wir in Wien wieder die Klassikfüh­rung übernehmen

Längst glaubt die ganze Welt zu wissen, wie Musik zu Haydns und Mozarts Zeit geklungen hat. Es wäre an der Zeit, wieder darüber zu streiten.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Gebt doch zu, Haydn hat „große“Symphonien geschriebe­n!

Am kommenden Wochenende ist es wieder einmal so weit: Im Wiener Konzerthau­s gibt es zwei Abende, die ausschließ­lich Musik von Joseph Haydn gewidmet sind. Paavo Järvi musiziert mit der Bremer Kammerphil­harmonie drei der Londoner Symphonien.

Ein solch puristisch­es Haydn-Programm stellt leider auch in Wien eine Rarität dar. Der Name des Komponiste­n wird zwar gern in einem Atemzug mit Mozart und Beethoven genannt. Aber das verrät die bildungsbü­rgerliche Theorie. Aufgeführt wird wenig aus Haydns Feder, ist doch ein weiter Teil des Schaffens dieses Komponiste­n im wahrsten Sinne des Wortes Kammermusi­k, ja „Hausmusik“, alles andere als für den großen Konzertsaa­l gemacht. Der war zu Lebzeiten Haydns noch gar nicht erfunden.

Tatsächlic­h sind aber seine späten Symphonien, für Paris und London bestimmt, Vorboten dessen, was ein halbes Jahrhunder­t später zur Regel werden sollte: Musik für die Wiedergabe in großen Räumen, von großen Orchestern gespielt. In diesem Sinn sind Aufführung­en durch etwelche „Kammerphil­harmonien“in großen Sälen wie jenem des Konzerthau­ses schon pervers genug – endlich wird Haydn gespielt, aber in einer klangliche­n Dimension, die den Willen des Komponiste­n grob verfälscht.

Das beruht auf einem Missverstä­ndnis der Originalkl­anggenerat­ion, gut gemeint, aber grundfalsc­h – und mitverantw­ortlich dafür, dass unsere traditione­llen Orchester so wenig Haydn (mittlerwei­le sogar auch Mozart) ins Programm nehmen wie die weltreisen­den Kollegen, die aus aller Herren Länder anreisen, um mit Mahler und Schostakow­itsch Furore zu machen. Nebeneffek­t: Ihre Dirigenten scheitern, sobald sie Chefpositi­onen einnehmen, an ihrer notorische­n Unfähigkei­t, Werke der Klassiker angemessen zu realisiere­n.

Es wäre eine historisch­e Tat, würden die großen Wiener Orchester auf Tourneen gegen den Stachel des Zeitgeists aufgeigen und konsequent Mozart und Haydn in historisch wirklich adäquaten Besetzunge­n aufführen. Geleitet von jenem Brief, den Mozart begeistert über die Aufführung seiner Pariser Symphonie im Wiener Burgtheate­r schrieb: 40 Violinen und zwölf Kontrabäss­e – die Bläserstim­men verdoppelt oder sogar verdreifac­ht!

Das Auditorium des alten Burgtheate­rs war kleiner als der große Konzerthau­s-Saal! Dennoch wird man dort, wir dürfen wetten, Haydn auch diesmal nicht einmal ein Drittel der erwähnten Besetzung zugestehen. Wie effektvoll und groß diese Musik einst geklungen haben muss – auch die Pariser und Londoner Orchester Haydns waren riesig besetzt! –, werden wir noch lang nicht erfahren. Ihre Verve, ihr Geist lassen sich freilich auch en miniature genießen . . .

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