Die Presse

Der Klimastrei­k war nicht schuld an ihrem Tod

Die Debatte um einen Unfall in Berlin zeigt unsere verquere Sicht auf den Straßenver­kehr.

- VON RUTH EISENREICH

Im Englischen gibt es den Begriff „Car Blindness“. Er beschreibt, wie wenig bewusst wir Autos in unserem alltäglich­en Umfeld wahrnehmen, wie sehr sie uns als natürliche­r Teil der Landschaft erscheinen. Wie selbstvers­tändlich wir Kleinkinde­rn einschärfe­n, unterwegs ihren Bewegungsd­rang zu zügeln, und von Fußgängern und Joggerinne­n verlangen, sich hell zu kleiden. Wie absurd wir es fänden, wenn jemand verlangt, zwölf Quadratmet­er des öffentlich­en Raums für seine private Sofalandsc­haft oder die Kisten aus seinem Keller nutzen zu dürfen – wie normal es aber ist, zwölf Quadratmet­er des öffentlich­en Raums kostenlos mit dem privaten Auto zu besetzen.

Im November hat sich gezeigt, dass der öffentlich­e Diskurs nicht nur an Autoblindh­eit leidet, sondern auch an einer offenbar verwandten Störung: an Betonmisch­erblindhei­t.

Nach dem Unfalltod einer Berliner Radfahreri­n Anfang November wurde in den deutschen und auch in den österreich­ischen Medien ausgiebig hin- und herdiskuti­ert: Hätte das Spezialfah­rzeug, das wegen einer Klimaprote­staktion erst mit Verzögerun­g zum Unfallort kam, die Radfahreri­n retten können? Sind die Klimaaktiv­isten und -aktivistin­nen mitschuldi­g am Tod der Frau? Darf Klimaaktiv­ismus so weit gehen?

Überfahren vom Betonmisch­er

Was in der Diskussion völlig unterging: Warum brauchte die Radfahreri­n überhaupt einen Rettungsei­nsatz? Sie brauchte ihn, weil ein Betonmisch­er sie überfahren hatte. Egal, wie man zu den Aktionsfor­men der Klimaprote­stierenden steht, ob man sie sinnvoll oder blödsinnig findet: Sie sind nicht schuld am Tod der Radfahreri­n.

In der medialen Debatte aber klang es, als wäre die Frau bei einer unvermeidb­aren Naturkatas­trophe verletzt worden. „,Klimaklebe­r‘ behinderte­n Rettung einer Radlerin in Berlin“, titelte etwa „Der Standard“, „Straßenblo­ckade durch Klimaprote­st: Radfahreri­n nach Unfall verstorben“, lautete eine Überschrif­t in der „Presse“.

Dabei ist ein solcher Unfall natürlich vermeidbar. Die unmittelba­re Verantwort­ung für den Tod der Radfahreri­n trägt der Mann, der sie mit einem Betonmisch­er überfahren hat. Vielleicht war er unvorsicht­ig; vielleicht hatte er von seiner Fahrerkabi­ne aus keine Chance, die Radfahreri­n zu sehen. In letzterem Fall tragen

womöglich sein Arbeitgebe­r oder der Hersteller des Betonmisch­ers eine Mitverantw­ortung. Sicher eine moralische Mitverantw­ortung tragen die zuständige­n Berliner Verkehrspo­litikerinn­en und Beamten: Wie die Zwillingss­chwester der getöteten Radfahreri­n dem „Spiegel“erzählt und auch ein ortskundig­er Berliner Journalist festgestel­lt hat, mündet der Radweg kurz vor dem Unfallort wegen einer Baustelle abrupt in die mehrspurig­e, viel befahrene Straße, und es ist schwer, danach wieder zurück auf den Radweg zu kommen. Der Radweg sei außerdem eine Holperpist­e, mit einem Rennrad praktisch nicht benutzbar.

In Berlin sind im Jahr 2021 zehn Radfahrend­e bei Verkehrsun­fällen ums Leben gekommen, 602 wurden schwer verletzt. Auf Österreich­s Straßen wurden im vergangene­n Jahr 9617 Radfahrend­e bei Verkehrsun­fällen verletzt und 50 getötet. Keiner dieser Unfälle bekam annähernd so viel Aufmerksam­keit wie der eine, für den man – wenn man dreimal um die Ecke denkt – Klimaprote­stierende mitverantw­ortlich machen kann.

Nach dem Betonmisch­er-Unfall in Berlin drohte der deutsche Bundesjust­izminister, Marco Buschmann (FDP), den Klimaaktiv­isten und -aktivistin­nen mit Freiheitss­trafen. Auch Innenminis­terin Nancy Faeser (SPD) plädierte für eine „schnelle und konsequent­e Strafverfo­lgung“. Die konservati­ve CDU/CSU-Fraktion forderte gar Mindestfre­iheitsstra­fen für Menschen, die durch eine Straßenblo­ckade die Durchfahrt eines Einsatzfah­rzeuges behindern.

Zum Vergleich: Ein Mann, der ebenfalls in Berlin im Oktober 2017 mit rund 70 km/h auf der Busspur an einem Stau vorbeifuhr und ein vierjährig­es Kind tötete, wurde 2020 zu einer zweijährig­en Bewährungs­strafe und drei Monaten Fahrverbot verurteilt – und selbst das erst in zweiter Instanz, die erste hatte 200 Euro Geldstrafe und einen Monat Fahrverbot verhängt.

Ein SUV-Fahrer, der 2019 vier Menschen auf einem Berliner Gehweg tötete, darunter einen dreijährig­en Buben, bekam im Februar 2022 ebenfalls eine zweijährig­e Bewährungs­strafe, dazu zwei Jahre Führersche­insperre und 15.000 Euro Geldstrafe .

In Österreich sind die Urteile kaum härter: Für den Alkolenker, der im April 2022 auf einem Gehweg zwei Menschen tötete und einen weiteren schwer verletzte: immerhin sechs Monate unbedingt. Für den Autofahrer, der 2019 eine Ein- und eine Vierjährig­e in einem Fahrradanh­änger tötete: 28.000 Euro Geldstrafe. Für den Mann, der 2019 in Niederöste­rreich einen Radfahrer tötete und Fahrerfluc­ht beging: vier Monate bedingte Haft und eine Geldstrafe von 3220 Euro.

Für den Fahrer, der 2019 in Salzburg mit seinem Auto ein vierjährig­es Mädchen tötete und eine 45-jährige Frau schwer verletzte: neun Monate auf Bewährung und 3960 Euro Geldstrafe.

Das Recht des Stärkeren

Wer sich in Österreich mit dem Rad fortbewegt, gerät mehrmals täglich in gefährlich­e Situatione­n, weil viele Autofahren­de das Recht des Stärkeren für sich beanspruch­en. Sie nehmen einem auf Radfahrübe­rfahrten den Vorrang. Sie überholen zu knapp – gern auch dann, wenn man in einer 30er-Zone 28 km/h fährt, oder direkt vor einer roten Ampel, an der man dann eine halbe Minute lang gemütlich nebeneinan­dersteht.

Sie öffnen Autotüren, ohne sich umzusehen („Dooring“) – allein dadurch wurden vergangene­s Jahr in Österreich 227 Radfahrend­e verletzt und zwei getötet. Sie hupen oder lassen den Motor aufheulen, wenn man außerhalb der Dooringzon­e – jenes Bereichs ganz rechts, in dem einen jederzeit eine aufgehende Autotür treffen könnte – fährt und ihnen dadurch das sofortige Überholen verwehrt. Geduldig hinter einem ein- oder ausparkend­en Auto zu warten ist für die meisten Autolenker kein Problem – finden sie sich hinter einer Radfahreri­n wieder, kommt es auf jede Sekunde an.

Wem es in dieser Diskussion tatsächlic­h um das Leben und die Sicherheit von Radfahrend­en oder die Verkehrssi­cherheit im Allgemeine­n geht, und nicht nur um eine willkommen­e Gelegenhei­t, Klimaaktiv­isten und -aktivistin­nen zu kritisiere­n, der sollte nicht harte Strafen für diese fordern. Sondern sich für mehr und bessere Radinfrast­ruktur einsetzen – und sich sein Anliegen in Erinnerung rufen, bevor er oder sie das nächste Mal unachtsam eine Autotür öffnet, einem Radfahrer die Vorfahrt nimmt, eine Radfahreri­n ungeduldig anhupt oder zu knapp überholt. Damit der nächste Rettungsei­nsatz für eine Radfahreri­n gar nicht erst nötig wird.

Ruth Eisenreich (* 1987) arbeitet als freie Journalist­in u. a. für „Die Zeit“, ist Chefredakt­eurin des Fahrradmag­azins „Drahtesel“und Mitgründer­in des werbefreie­n, mitglieder­finanziert­en Onlinemaga­zins tag eins, dessen Crowdfundi­ng noch bis 28. November läuft. Weiterführ­ende Links und Quellenang­aben finden Sie in der Digitalver­sion dieses Kommentars unter

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