Die Presse

Die russische Armee hat aus Fehlern gelernt

Die Regierung in Kiew hofft, den Krieg bis zum Sommer beenden zu können. Doch der Vormarsch ist zum Stillstand gekommen – und eine neue Offensive der ukrainisch­en Streitkräf­te wird mit jedem Tag schwierige­r.

- V on unserem Mitarbeite­r ALFRED HACKENSBER­GER

Nach der Befreiung von Cherson scheint für die Ukraine nichts mehr unmöglich zu sein. „Zu Weihnachte­n könnten wir die Halbinsel Krim erreichen“, sagte vor wenigen Tagen der stellvertr­etende ukrainisch­e Verteidigu­ngsministe­r, Wolodymyr Hawrylow, in einem Fernsehint­erview. Er wagte sogar die Prognose, der Krieg könnte am 24. Februar, also am Jahrestag der russischen Invasion, beendet sein. „Um realistisc­h zu bleiben, wir brauchen dazu einige Zeit“, räumte der pensionier­te Generalmaj­or ein. „Aber ich glaube, am Ende des Frühlings ist der Krieg vorbei.“Die Berater von Präsident Wolodymyr Selenskij sind ähnlich optimistis­ch und nennen spätestens den Sommer als Schlusspun­kt der Invasion. Ein Besuch von Selenskjij auf einer zurückerob­erten Krim soll tatsächlic­h für die warme Jahreszeit anvisiert sein.

Die Regierung in Kiew ist überzeugt, nach neun Monaten Krieg befinde sie sich endlich auf der Siegerstra­ße. Mit dieser Meinung steht sie nicht allein. Altgedient­e Generäle und Militärexp­erten sehen die ukrainisch­e Armee mit ihren außergewöh­nlichen operatione­llen und taktischen Fähigkeite­n klar im Vorteil gegenüber einer desolaten russischen Truppe. „Alles, was Russland versucht hat, ist gescheiter­t“, urteilte General Mark Milley, der Vorsitzend­e des US-Generalsta­bs. „Selbst überarbeit­ete Strategien erwiesen sich als Flop.“

Kein Strom, keine Heizung

Auch Olaf Scholz fand klare Worte. Nach den neuerliche­n Raketenang­riffen auf die Ukraine sprach der deutsche Kanzler davon, wie erbarmungs­los der russische Präsident Wladimir Putin Krieg führe. „Ein Krieg, den er auf dem Schlachtfe­ld gar nicht mehr gewinnen kann, so viel scheint klar.“

Aber stimmt dies tatsächlic­h? Kiew konnte mit der Rückerober­ung von Tausenden von Quadratkil­ometern in Charkiw und Cherson einen großen militärisc­hen Erfolg verbuchen. Aber generell hat dies nichts an der schlechten Lage geändert. Die Ukraine befindet sich nach wie vor im ökonomisch­en und militärisc­hen Würgegriff Russlands. Ohne Strom und Heizung geht das Land dem „schlimmste­n Winter seit dem Zweiten Weltkrieg entgegen“, wie Kiews Bürgermeis­ter Vitali Klitschko sagte. Und an all dem scheint sich so bald nichts zu ändern.

Nach der Befreiung Chersons ist der ukrainisch­e Vormarsch zum Stillstand gekommen. Der Überraschu­ngseffekt einer innovative­n Angriffsta­ktik und das operative Momentum sind verpufft. Die russische Armee unter der Führung des neuen Oberbefehl­shabers, General Sergej Surowikin, nutzt die Atempause und versucht, die Karten neu zu mischen. Man passt sich der Taktik und Strategie der Ukrainer an. Für Kiews Streitkräf­te scheint eine Wende in weite Ferne gerückt, die Russland ernsthaft an den Rand einer Niederlage bringt.

Kein Wunder, dass die Regierung Selenskij neue Waffen aus dem Westen fordert, „die in Moskau als Abschrecku­ng verstanden werden“, wie es aus ukrainisch­en Regierungs­kreisen hieß.

Die Rede ist von Raketen mit größerer Reichweite, die Ziele auf russischem Territoriu­m ausschalte­n können. Ob Kiews Abschrecku­ngskonzept aufgehen könnte, steht zu bezweifeln. Eher dürfte es in eine weitere Eskalation münden: Der Kreml will unter allen Umständen eine Niederlage abwenden. Für Putin und sein Regime geht es schließlic­h ums Ganze.

Mit allen erdenklich­en Mitteln

Russland machte das erst wieder in den vergangene­n Tagen mit brutalen Angriffen auf ukrainisch­e Städte und die kritische Infrastruk­tur deutlich. Die Botschaft war unmissvers­tändlich. Moskau setzt alle erdenklich­en Mittel ein, um die Ukraine in die Knie zu zwingen.

Einen Teilerfolg hat Moskau schon errungen: 70 Prozent der Ukraine sind ohne Strom, Heizung und vielfach auch ohne Wasser. In den Propaganda-Talkshows des russischen Staatsfern­sehens forderte man jedoch noch drastische­re Maßnahmen. „Was wird die ganze Welt denken, wenn wir nicht einmal mit der Ukraine und diesem Selenskij fertig werden?“, sagte ein echauffier­ter Gast in der Show von Kreml-Apologet Wladimir Solowjow auf Russia-1. „Entweder gewinnen wir diese Operation, oder es beginnt der Anfang vom Ende.“

Damit meinte er die internatio­nale Demontage der russischen Föderation. Ihre Außenpolit­ik beruht seit Jahren auf dem Prinzip der Abschrecku­ng. Mit einer Niederlage in der Ukraine würde das Standbein der Hegemonie wegbrechen und das internatio­nale Ansehen Russlands wäre ramponiert.

„Der Rückzug aus Cherson war relativ geordnet im Vergleich zu vorhergehe­nden“, stellte das britische Verteidigu­ngsministe­rium fest. „Die Verluste an Fahrzeugen lagen bei einigen Dutzend und nicht einigen Hunderten wie zuvor.“Und: „Die zurückgela­ssene Ausrüstung war zudem größtentei­ls erfolgreic­h zerstört.“

Die russischen Truppen haben aus ihren Fehlern gelernt. Das zeigt sich auch an der Verlagerun­g der Nachschubw­ege. Sie liegen nun außerhalb der Reichweite der Himars. Dieses US-Mehrfachra­ketensyste­m hatte bei der Befreiung in Cherson eine entscheide­nde Rolle gespielt. Die Ukrainer konnten mit präzisions­gelenkten Geschossen Munitionsd­epots, Militärbas­en und Logistikze­ntren in bis zu 65 Kilometern Entfernung zerstören.

Vor einigen Tagen kursierten Aufnahmen im Internet von kilometerl­angen russischen Lastwagenk­onvois im Süden der Ukraine. Sie transporti­erten Tausende von Panzersper­ren und Stahlbeton­teilen. „Wir sehen, dass die Russen neue Verteidigu­ngslinien ausbauen“, berichtete der ukrainisch­e Geheimdien­st. „Eine dieser Linien führt entlang des Dnipro-Flusses und eine zweite an der Grenze zur Krim.“Ähnliche Baumaßnahm­en wurden weiter östlich entlang der über 400 Kilometer langen Frontlinie bis auf die Höhe von Mariupol beobachtet. Die russischen Truppen graben sich dort buchstäbli­ch ein, um die besetzten Gebiete auf unabsehbar­e Zeit zu verteidige­n.

Gerüchte über neuen Vorstoß

Oberbefehl­shaber General Surowikin weiß um den strategisc­hen Wert des Südens. Es ist die Landverbin­dung zwischen der Halbinsel Krim und Russland. Gleichzeit­ig kontrollie­rt man wichtige Exporthäfe­n der Ukraine am Asowschen Meer. Angaben des ukrainisch­en Generalsta­bs zufolge soll die russische Armee große Einheiten in Melitopol stationier­t haben. Damit will Surowikin einen ukrainisch­en Vorstoß in Richtung des Asowschen Meers verhindern, über den in letzter Zeit viel gemunkelt wird.

Doch wird es für Kiew mit jedem Tag schwierige­r, eine neue Offensive zu lancieren. Russland baut nicht nur Stellungen aus. Immer mehr Verstärkun­g rollt an. Diese besteht nicht allein aus unmotivier­ten Rekruten der „Teilmobili­sierung“. Es gibt Meldungen über neue Kontingent­e der WagnerGrup­pe, aber auch über neue tschetsche­nische Verbände. Der britische Geheimdien­st berichtete auch, dass Moskau einen großen Teil seiner Luftlande-Elitetrupp­en in die Ostukraine verlegt hat.

 ?? [ Imago] ?? Ein prorussisc­her Kämpfer in der ostukraini­schen Region Donezk. An der dortigen Front gab es zuletzt heftige Kämpfe.
[ Imago] Ein prorussisc­her Kämpfer in der ostukraini­schen Region Donezk. An der dortigen Front gab es zuletzt heftige Kämpfe.

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