Die russische Armee hat aus Fehlern gelernt
Die Regierung in Kiew hofft, den Krieg bis zum Sommer beenden zu können. Doch der Vormarsch ist zum Stillstand gekommen – und eine neue Offensive der ukrainischen Streitkräfte wird mit jedem Tag schwieriger.
Nach der Befreiung von Cherson scheint für die Ukraine nichts mehr unmöglich zu sein. „Zu Weihnachten könnten wir die Halbinsel Krim erreichen“, sagte vor wenigen Tagen der stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister, Wolodymyr Hawrylow, in einem Fernsehinterview. Er wagte sogar die Prognose, der Krieg könnte am 24. Februar, also am Jahrestag der russischen Invasion, beendet sein. „Um realistisch zu bleiben, wir brauchen dazu einige Zeit“, räumte der pensionierte Generalmajor ein. „Aber ich glaube, am Ende des Frühlings ist der Krieg vorbei.“Die Berater von Präsident Wolodymyr Selenskij sind ähnlich optimistisch und nennen spätestens den Sommer als Schlusspunkt der Invasion. Ein Besuch von Selenskjij auf einer zurückeroberten Krim soll tatsächlich für die warme Jahreszeit anvisiert sein.
Die Regierung in Kiew ist überzeugt, nach neun Monaten Krieg befinde sie sich endlich auf der Siegerstraße. Mit dieser Meinung steht sie nicht allein. Altgediente Generäle und Militärexperten sehen die ukrainische Armee mit ihren außergewöhnlichen operationellen und taktischen Fähigkeiten klar im Vorteil gegenüber einer desolaten russischen Truppe. „Alles, was Russland versucht hat, ist gescheitert“, urteilte General Mark Milley, der Vorsitzende des US-Generalstabs. „Selbst überarbeitete Strategien erwiesen sich als Flop.“
Kein Strom, keine Heizung
Auch Olaf Scholz fand klare Worte. Nach den neuerlichen Raketenangriffen auf die Ukraine sprach der deutsche Kanzler davon, wie erbarmungslos der russische Präsident Wladimir Putin Krieg führe. „Ein Krieg, den er auf dem Schlachtfeld gar nicht mehr gewinnen kann, so viel scheint klar.“
Aber stimmt dies tatsächlich? Kiew konnte mit der Rückeroberung von Tausenden von Quadratkilometern in Charkiw und Cherson einen großen militärischen Erfolg verbuchen. Aber generell hat dies nichts an der schlechten Lage geändert. Die Ukraine befindet sich nach wie vor im ökonomischen und militärischen Würgegriff Russlands. Ohne Strom und Heizung geht das Land dem „schlimmsten Winter seit dem Zweiten Weltkrieg entgegen“, wie Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte. Und an all dem scheint sich so bald nichts zu ändern.
Nach der Befreiung Chersons ist der ukrainische Vormarsch zum Stillstand gekommen. Der Überraschungseffekt einer innovativen Angriffstaktik und das operative Momentum sind verpufft. Die russische Armee unter der Führung des neuen Oberbefehlshabers, General Sergej Surowikin, nutzt die Atempause und versucht, die Karten neu zu mischen. Man passt sich der Taktik und Strategie der Ukrainer an. Für Kiews Streitkräfte scheint eine Wende in weite Ferne gerückt, die Russland ernsthaft an den Rand einer Niederlage bringt.
Kein Wunder, dass die Regierung Selenskij neue Waffen aus dem Westen fordert, „die in Moskau als Abschreckung verstanden werden“, wie es aus ukrainischen Regierungskreisen hieß.
Die Rede ist von Raketen mit größerer Reichweite, die Ziele auf russischem Territorium ausschalten können. Ob Kiews Abschreckungskonzept aufgehen könnte, steht zu bezweifeln. Eher dürfte es in eine weitere Eskalation münden: Der Kreml will unter allen Umständen eine Niederlage abwenden. Für Putin und sein Regime geht es schließlich ums Ganze.
Mit allen erdenklichen Mitteln
Russland machte das erst wieder in den vergangenen Tagen mit brutalen Angriffen auf ukrainische Städte und die kritische Infrastruktur deutlich. Die Botschaft war unmissverständlich. Moskau setzt alle erdenklichen Mittel ein, um die Ukraine in die Knie zu zwingen.
Einen Teilerfolg hat Moskau schon errungen: 70 Prozent der Ukraine sind ohne Strom, Heizung und vielfach auch ohne Wasser. In den Propaganda-Talkshows des russischen Staatsfernsehens forderte man jedoch noch drastischere Maßnahmen. „Was wird die ganze Welt denken, wenn wir nicht einmal mit der Ukraine und diesem Selenskij fertig werden?“, sagte ein echauffierter Gast in der Show von Kreml-Apologet Wladimir Solowjow auf Russia-1. „Entweder gewinnen wir diese Operation, oder es beginnt der Anfang vom Ende.“
Damit meinte er die internationale Demontage der russischen Föderation. Ihre Außenpolitik beruht seit Jahren auf dem Prinzip der Abschreckung. Mit einer Niederlage in der Ukraine würde das Standbein der Hegemonie wegbrechen und das internationale Ansehen Russlands wäre ramponiert.
„Der Rückzug aus Cherson war relativ geordnet im Vergleich zu vorhergehenden“, stellte das britische Verteidigungsministerium fest. „Die Verluste an Fahrzeugen lagen bei einigen Dutzend und nicht einigen Hunderten wie zuvor.“Und: „Die zurückgelassene Ausrüstung war zudem größtenteils erfolgreich zerstört.“
Die russischen Truppen haben aus ihren Fehlern gelernt. Das zeigt sich auch an der Verlagerung der Nachschubwege. Sie liegen nun außerhalb der Reichweite der Himars. Dieses US-Mehrfachraketensystem hatte bei der Befreiung in Cherson eine entscheidende Rolle gespielt. Die Ukrainer konnten mit präzisionsgelenkten Geschossen Munitionsdepots, Militärbasen und Logistikzentren in bis zu 65 Kilometern Entfernung zerstören.
Vor einigen Tagen kursierten Aufnahmen im Internet von kilometerlangen russischen Lastwagenkonvois im Süden der Ukraine. Sie transportierten Tausende von Panzersperren und Stahlbetonteilen. „Wir sehen, dass die Russen neue Verteidigungslinien ausbauen“, berichtete der ukrainische Geheimdienst. „Eine dieser Linien führt entlang des Dnipro-Flusses und eine zweite an der Grenze zur Krim.“Ähnliche Baumaßnahmen wurden weiter östlich entlang der über 400 Kilometer langen Frontlinie bis auf die Höhe von Mariupol beobachtet. Die russischen Truppen graben sich dort buchstäblich ein, um die besetzten Gebiete auf unabsehbare Zeit zu verteidigen.
Gerüchte über neuen Vorstoß
Oberbefehlshaber General Surowikin weiß um den strategischen Wert des Südens. Es ist die Landverbindung zwischen der Halbinsel Krim und Russland. Gleichzeitig kontrolliert man wichtige Exporthäfen der Ukraine am Asowschen Meer. Angaben des ukrainischen Generalstabs zufolge soll die russische Armee große Einheiten in Melitopol stationiert haben. Damit will Surowikin einen ukrainischen Vorstoß in Richtung des Asowschen Meers verhindern, über den in letzter Zeit viel gemunkelt wird.
Doch wird es für Kiew mit jedem Tag schwieriger, eine neue Offensive zu lancieren. Russland baut nicht nur Stellungen aus. Immer mehr Verstärkung rollt an. Diese besteht nicht allein aus unmotivierten Rekruten der „Teilmobilisierung“. Es gibt Meldungen über neue Kontingente der WagnerGruppe, aber auch über neue tschetschenische Verbände. Der britische Geheimdienst berichtete auch, dass Moskau einen großen Teil seiner Luftlande-Elitetruppen in die Ostukraine verlegt hat.