Natura 2000: EU startet Verfahren
EU-Schutzgebiete. Während in Kanada die Biodiversitätskonferenz der UN als Erfolg gefeiert wird, übt Brüssel an Österreichs Schutz der Artenvielfalt heftige Kritik – nicht zum ersten Mal.
INFR(2022)2056: So lautet die Geschäftszahl, die derzeit neun Landesregierungen und den Bund beschäftigt. Hinter der Aktenzahl steht eine lang währende Praxis, gegen welche die Europäische Kommission nun vorgeht: Österreichs Umgang mit den naturschutzrechtlichen Vorgaben der EU. Konkret geht es um „Natura 2000“-Gebiete, die aufgrund der Flora-Fauna-Habitat- und der Vogelschutz-Richtlinie auszuweisen sind. Dabei gebe es erhebliche Defizite, ebenso bei der Umweltinformation.
„Gemäß der Richtlinie müssen Mitgliedstaaten besondere Schutzgebiete ausweisen und Erhaltungsziele sowie entsprechende Maßnahmen festlegen, um einen günstigen Erhaltungszustand der dortigen Arten und Lebensräume zu erhalten oder wiederherzustellen“, heißt es in einem Statement der Kommission. Sie hat nun die erste Stufe eines gemeinschaftsrechtlichen Verfahrens eingeleitet. Österreich muss eine Stellungnahme zu den Vorwürfen abgeben. Fällt sie ungenügend aus, kommt es zu einem Verfahren, an dessen Ende eine Geldstrafe stehen könnte.
Kompetenz der Bundesländer
Dieses Verfahren ist zwar nicht formal, aber inhaltlich eng verknüpft mit dem Geschehen auf der eben zu Ende gegangenen Biodiversitätskonferenz in Montreal. Was dort in unverbindlich formulierte Schlussdokumente geschrieben ist, muss national in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Zuständig sind hierzulande die Bundesländer, auf deren Konto es in erster Linie geht, wenn Österreich in Sachen Umweltund Naturschutz alles andere als ein Vorzugsschüler ist.
Der Bund hat kein direktes Durchgriffsrecht. Naturschutz, Fischerei und Jagdrecht fallen in die Kompetenz der Bundesländer. Aus dem Umwelt- und Klimaschutzministerium heißt es, das Ressort sei „nicht betroffen. Denn es betrifft die Rechtsmaterien im Kompetenzbereich der Bundesländer.“Und: „Die prozedurale Koordination liegt beim Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes.“
Im Mahnschreiben an Österreich heißt es zu den „Natura 2000“-Gebieten: „Der europäische Grüne Deal und die EU-Biodiversitätsstrategie zielen darauf ab, dass die EU den Verlust an biologischer
Vielfalt stoppt, indem sie geschädigte Ökosysteme verbessert und wiederherstellt. Österreich hat die erforderlichen Maßnahmen noch nicht umgesetzt.“
Erst vor einer Woche hat das Umwelt- und Klimaschutzministerium die Biodiversitätsstrategie 2030+ veröffentlicht, die seit dem Frühjahr fertig, aber politisch eingefroren war. Die Umsetzung wird schwierig, weil die ÖVP blockiert.
„Natura 2000“ist kein neues Thema; im Gegenteil. Schon die Ausweisung der Gebiete selbst war problematisch. Dazu gab es bereits Mahnschreiben aus Brüssel. So waren erst 25 Jahre nach dem Beitritt Österreichs die Ausmaße der Gebiete richtlinienkonform. Aber: Das Mahnschreiben kritisierte, dass Österreich in vielen Gebieten „keine Erhaltungsziele und -maßnahmen festgelegt hat, oder die Ziele und Maßnahmen sind unvollständig oder zu weit gefasst“.
„Ähnlich ist die Situation bei den besonderen Schutzgebieten, die in den Anwendungsbereich der Vogelschutzrichtlinie fallen. Aufgrund von Mängeln können Projekte, die erhebliche Auswirkungen
auf die Schutzgebiete haben könnten, nicht ordnungsgemäß bewertet werden. Ferner hat Österreich der Öffentlichkeit keine ausreichenden Informationen über Erhaltungsziele und -maßnahmen zur Verfügung gestellt.“Eine Antwort Österreichs wäre bis Ende November fällig gewesen.
Lücken bei Gletscherflüssen
Vor diesem Hintergrund übt der World Wide Fund for Nature (WWF) scharfe Kritik. Gebiete seien „trotz besseren Wissens“nicht auf Basis fachlicher Kriterien abgegrenzt worden. Etwa bei den Osttiroler Gletscherflüssen gebe es große Lücken im Schutzgebiet. Außerdem seien über geschützte Arten und Lebensräume „Informationen bewusst weggelassen worden“. Als Beispiel nennt der WWF das Schutzgebiet an der Isel.
Und der WWF bemängelt auch, dass „europarechtlich streng geschützte Arten nach Landesgesetzen und Verordnungen nicht geschützt sind und bei Genehmigungsverfahren nicht als EUSchutzgüter behandelt werden“. So sei zwar ein Schutzgebiet „Ötztaler Alpen“ausgewiesen, allerdings ist in der Tiroler Schutzgebietsverordnung kein Vogel als Schutzgut ausgewiesen. Dadurch gebe es in offizieller Betrachtung keine schützenswerte Art, weshalb das Landesverwaltungsgericht ein Projekt zur Errichtung von Lawinensprengmasten bewilligt habe.
Gerhard Egger, WWF-Experte für Gewässerschutz: „Wenn Österreich nicht rasch und weitreichend auf das Mahnschreiben reagiert, drohen schwerwiegende Konsequenzen – von rechtswidriger Naturzerstörung bis zu einer Anklage vor dem Europäischen Gerichtshof und hohen Strafzahlungen.“
Der WWF fordert unter anderem einen sofortigen Baustopp in Natura-2000-Gebieten, die mangelhaft umgesetzt worden sind, vollständige und vereinheitlichte Managementpläne, deren Umsetzung und verbindliche Erhaltungsziele. Außerdem gebe es immer noch Gebiete, die noch nicht als Natura 2000 formal verordnet worden sind. Und schließlich will der WWF eine koordinierende Naturschutz-Fachstelle – als Koordinationszentrum für Biodiversität.