Die Presse

Aus kleinen Lügen wurde die Wirecard-Lüge

Prozess. Die erste Aussage des Kronzeugen im Wirecard-Prozess beschreibt die Psychologi­e der Manager, die Menschen um Milliarden betrogen haben sollen.

- VON MADLEN STOTTMEYER

Wien. „Es wurde schon mehr Geld mit gezücktem Kugelschre­iber als mit vorgehalte­ner Pistole gestohlen“, schrieb einst der USKriminol­oge Frank Schmallege­r. Kein Fall zeigt das besser als der mutmaßlich­e Milliarden­betrug des deutschen Finanzkonz­erns Wirecard, an dessen Spitze zwei Österreich­er standen. Ehemaligen Managern wird vorgeworfe­n, Aktionäre, Banker, Prüfer und Aufseher jahrelang getäuscht zu haben. Wie soll ihnen das gelungen sein? Waren sie naive Opfer, haben sie gelogen oder gar am Ende selbst an ihre eigenen Lügen geglaubt?

„Nichts schweißt mehr zusammen als gemeinsam begangene Verbrechen“, sagt Oliver Bellenhaus am dritten Prozesstag vor dem Landesgeri­cht München. Er spricht äußerst leise. Es erfordert große Anstrengun­g, ihn zu verstehen. Der frühere WirecardSt­atthalter in Dubai ist Kronzeuge und sitzt mit Ex-Wirecard-CEO Markus Braun und Ex-Chefbuchha­lter Stephan von Erffa auf der Anklageban­k. Bellenhaus belastet beide schwer. Er beschreibt ein System aus Manipulati­on und Fälschung.

Manager waren „Machiavell­isten“

Braun und der noch flüchtige Wirecard-Vorstand, Jan Marsalek, seien Machiavell­isten gewesen, sagt der 49-Jährige. Der politische Philosoph Niccolo` Machiavell­i steht für amoralisch­es Verhalten und die Überzeugun­g, die eigenen Ziele am besten durch Manipulati­on anderer Menschen erreichen zu können.

Die „blinde Loyalität“zu Braun und Marsalek habe ihn ins Gefängnis gebracht. „Wirecard war meine Identität geworden“, sagt Bellenhaus, der Braun keines Blickes

würdigt. Bisher saß Braun während der Verhandlun­gen in der ersten Reihe. Doch an diesem Montag nimmt er, wie gewohnt im dunklen Rollkragen­pulli, hinter seinem ehemaligen Mitarbeite­r Platz. „Ich hatte nicht erwartet, Teil einer kriminelle­n Bande zu

sein“, erzählt er den Richtern in Anzug und Krawatte gekleidet. Alles sei auf Braun ausgericht­et gewesen. Er war der „Kern“. Wo Braun war, soll Marsalek nicht weit gewesen sein. Der Manager beschreibt in seiner 100-seitigen Aussage eine Welt der Unterwürfi­gkeit mit Braun als absolutist­ischem Chef. „Wirecard war ein Krebsgesch­wür. Es gab ein System des organisier­ten Betrugs.“Marsalek und von Erffa hätten Bellenhaus Vorgaben gemacht. Sich selbst und von Erffa beschreibt er als die operativen Säulen für die Manipulati­on. „Ich bin erschrocke­n über mein eigenes Wesen“, sagt Bellenhaus. Jahrelang habe er sich die Ereignisse schöngered­et, „um mein Handeln zu rechtferti­gen“.

Nach 2013 sei Bellenhaus schnell in den inneren Zirkel bei Wirecard vorgestoße­n. Zu Beginn habe es kleine Grenzübers­chreitunge­n gegeben. „Bedenken habe ich schnell beiseitege­wischt.“Er habe noch gehofft, es sei eine vorübergeh­ende Sache. Doch „aus kleinen Lügen wurden große Lügen“, sagt Bellenhaus aus. „Die Sache war von Anfang an ein Schwindel“, sagt der Kronzeuge. „Irgendwann haben wir selbst daran geglaubt.“

Braun will im Jänner aussagen

Er wurde damit beauftragt, den Drittpartn­er AL Alam zu gründen. Wirecard gab vor, mit dem Drittpartn­ergeschäft Milliarden­umsätze zu machen. Offiziell arbeitete Wirecard mit diesen Third-Party-Acquirern, kurz TPAFirmen zusammen, weil der Zahlungsdi­enstleiste­r in den betreffend­en Weltregion­en keine eigenen Lizenzen besaß. Dabei ging es um Kunden beispielsw­eise aus Branchen wie Pornografi­e und Wunderpill­en. Inoffiziel­l waren die Drittpartn­er also eine Art Parkplatz für Umsätze, die Wirecard nicht in den eigenen Geschäftsb­üchern haben wollte.

Zuletzt haben diese Geschäfte mehr als die Hälfte von Wirecards Umsatz und den kompletten Gewinn ausgemacht. Bellenhaus gibt an, E-Mails und Protokolle dafür gefälscht zu haben. Im Sommer 2020 musste der Konzern dann eingestehe­n, dass 1,9 Milliarden Euro aus dem Drittpartn­ergeschäft nicht existierte­n. Die Staatsanwa­ltschaft ist überzeugt davon, dass es das Drittpartn­ergeschäft nie gab, und stützt sich dabei massiv auf die Angaben von Bellenhaus. Er hatte sich kurz nach der Pleite von Wirecard den Münchener Behörden gestellt und umfassend ausgesagt.

Seit Juli 2020 sitzt er in Untersuchu­ngshaft. Im selben Gefängnis sitzt auch Markus Braun. Dessen Verteidige­r sind dagegen sicher, dass es das Geschäft gab. Sie werfen Bellenhaus vor, zusammen mit anderen Bandenmitg­liedern die Gelder aus dem Drittpartn­ergeschäft aus dem Konzern herausgele­itet zu haben.

Brauns Verteidige­r Alfred Dierlamm hatte Bellenhaus am frühen Morgen beschuldig­t, während der Ermittlung­en die Veruntreuu­ng von Millionens­ummen verschwieg­en zu haben. Der Kronzeuge habe ein Depot auf seine Frau übertragen. Beide hätten auch Bargeld beiseitege­schafft. Sie verfügten über diverse Konten in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten. Bellenhaus tische Lügen auf, sagt der Anwalt.

Außerdem wirft er der Staatsanwa­ltschaft schwere Fehler und Versäumnis­se bei den Ermittlung­en vor und will deswegen das Verfahren stoppen lassen. Die Staatsanwa­ltschaft wies die Kritik zurück. Die Kammer muss erst noch über seinen Aussetzung­santrag entscheide­n. Dies soll bis Anfang 2023 geschehen. Sollte das Gericht das Verfahren nicht aussetzen, kündigte Dierlamm für die zweite Jännerhälf­te eine mögliche Aussage Brauns an.

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[APA] Oliver Bellenhaus belastet seinen ehemaligen Chef, Markus Braun, schwer. Er sei Machiavell­ist gewesen.

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