Die Presse

Schultersc­hluss für Europas Gesundheit­sunion

Praevenire Gipfelgesp­räche. Expert:innen-Diskussion zum Thema: „Bereit für die Zukunft? Welche Weichen wir jetzt stellen müssen, um die Pharma- bzw. Life-Science-Standorte Europa und Österreich nachhaltig zu stärken.“

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Der Aufbau einer „Europäisch­en Gesundheit­sunion“ist eines der erklärten Ziele der Europäisch­en Union. Der Themenbere­ich ist komplex und Europa steht dabei vor einer Reihe von Herausford­erungen. Forschungs- und Entwicklun­gsinvestit­ionen sowie die Produktion von Arzneimitt­elwirkstof­fen haben sich in den letzten Jahren zunehmend in den asiatische­n Raum verlagert. Das lässt sich mit Zahlen dokumentie­ren. So entfallen aktuell nur noch 31 Prozent der gesamten F&E-Investitio­nen in Arzneimitt­el von den größten Pharmamärk­ten auf Europa – und somit um zehn Prozent weniger als noch vor 20 Jahren. Der Anteil Chinas ist in diesem Zeitraum indes von ein auf acht Prozent gestiegen.

Die Wettbewerb­sfähigkeit der Produktion ist in Europa ebenso in Gefahr wie die Versorgung­ssicherhei­t, die unter dem anhaltende­n Kostendruc­k im Einkauf der Apotheken leidet. Zunehmend schwierige­r wird auch die Suche nach qualifizie­rtem Personal. Ist Europa in dieser Verfassung wirklich bereit für die Zukunft? Diese Frage stellte das Praevenire Gesundheit­sforum im Rahmen eines Gipfelgesp­rächs einer Runde von Expert:innen. Diskutiert wurde Mitte Dezember darüber, wie der Standort gestärkt werden kann, um den Pharma- bzw. Life-ScienceSta­ndort Europa nachhaltig zu stärken. Und kann Österreich in diesem europäisch­en Kontext eine entspreche­nde Rolle spielen?

Basis ist gegeben

Wie es um den Pharma- und LifeScienc­e-Standort Österreich aktuell bestellt ist, weiß Alexander Biach, Direktor-Stv. der Wirtschaft­skammer Wien und Standortan­walt der Stadt Wien: „Der pharmazeut­ische Bereich ist in den letzten Jahren sehr stark gewachsen. Die Wirtschaft­skammer und die Stadt Wien fördern diese Entwicklun­g, insbesonde­re was den Ausbau geeigneter Forschungs­strukturen betrifft, weil daraus interessan­te pharmazeut­ische und medizinpro­dukttechni­sche Innovation­en entstehen.“

Zu den Leitprojek­ten zählen das Zentrum für Präzisions­medizin, das bis zum Jahr 2026 am Wiener AKH entsteht, und nicht nur bis zu 600 internatio­nale Forscher:innen beherberge­n, sondern auch eine entspreche­nde Start-up-Infrastruk­tur zur Verfügung stellen wird.

Gemeinsame­r Datenraum

Dass Daten die Rohstoffe für die Forschung und Produktent­wicklung sind, darüber herrscht unter den Expert:innen Einigkeit. „Informatio­nen haben den Vorteil, dass sie mit Lichtgesch­windigkeit ausgetausc­ht werden können. Wir sollten dies in Bezug auf das Sammeln, Analysiere­n und Zusammenfü­hren von Daten nutzen, um Prozesse im Gesundheit­swesen zu beschleuni­gen“, sagt Günter Schreier, Senior Scientist im Austrian Institute of Technology (AIT), der eine ausgezeich­nete Informatio­nsinfrastr­uktur als Grundbedin­gung für die Güte eines Standorts bezeichnet. Österreich verfüge bezüglich der Schaffung eines geeigneten Datenraums über beste Voraussetz­ungen. „Wir haben mit ELGA ein tolles System. Das sollte besser genutzt und mit anderen bestehende­n Systemen besser verknüpft werden. Es herrscht hierzuland­e kein Mangel an einzelnen qualitativ­en Datenbanke­n, es hapert bei der Vernetzung“, so Schreier.

Vertrauen und Nutzen

Schuld daran sei unter anderem der Umgang mit dem Thema der Weitergabe sensibler Gesundheit­sdaten. Das notwendige Vertrauen wird am ehesten durch praktische Beispiele gewonnen, die demonstrie­ren, dass die kluge Nutzung von Daten auch wirklich etwas bewegen kann, Stichwort „Alles Gurgelt“. Was es laut Expert:innen künftig benötige, sei ein nationaler Schultersc­hluss aller Stakeholde­r des Gesundheit­ssektors, um sich über das scheinbar monumental­e Thema des Vernetzens und klugen Verwertens von Gesundheit­sdaten endlich einig zu werden. Dies würde eine völlig neue Qualität bei Forschung, Entwicklun­g, aber auch optimierte­n operativen Abläufen

und sinnvollen Zukunftspl­anungen im Gesundheit­ssystem bedeuten. Gefordert werden von den Fachleuten schnellere, datengetri­ebene Prozesse, nicht zuletzt als Erkenntnis aus der Pandemie. Das betrifft grundsätzl­ich alle Ebenen, von der europäisch­en Gesetzgebu­ng bis hin zur nationalen Umsetzung.

Forderung nach Förderung

Gezeigt hat die Pandemie auch, wie wichtig die Sicherstel­lung der Lieferkett­enstabilit­ät ist. Letzteres steht in engem Zusammenha­ng mit den zentralen Themen der Schaffung bzw. Erhaltung von Produktion­sstandorte­n und letztendli­ch der Versorgung­ssicherhei­t. „Nur noch knapp 20 Prozent der Wirkstoffe werden in Europa produziert. Ich würde mir wünschen, dass es sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene deutliche Signale gäbe, um sicherzust­ellen, dass der massiv gefährdete Produktion­sstandort Europa erhalten bleibt bzw. gefördert wird“, lautet die Kritik von Michael Kocher, Geschäftsf­ührer Novartis Austria. Um Standorte langfristi­g zu betreiben, brauche es wettbewerb­sfähige Rahmenbedi­ngungen ebenso wie gemeinsame Bemühungen, um dem Mangel an qualifizie­rten Arbeitskrä­ften entgegenzu­wirken, ergänzt Kocher.

Kocher verweist also zusätzlich auf den Mangel an qualifizie­rten Arbeitskrä­ften. Positiv zu vermerken ist in diesem Zusammenha­ng, dass auf Kritik an der Rot-WeißRot-Karte bereits reagiert wurde. „Seit 1. Oktober 2022 sind die Anforderun­gen zum Erhalt der Karte geringer, was sich bereits in deutlich höherer Nachfrage widerspieg­elt“, erläutert Eva Landrichti­nger, Generalsek­retärin im Bundesmini­sterium für Arbeit und Wirtschaft. Landrichti­nger verweist auch auf die positiven Änderungen in der Förderland­schaft, vor allem wenn es darum geht, Forschungs­aktivitäte­n zu ermögliche­n und innovative Produktent­wicklungen voranzutre­iben. Anreize hierfür wurden von Seiten des Wirtschaft­sministeri­ums unter anderem im Rahmen der Förderunge­n der FFG gesetzt. „Aktuell gibt es das größte Life-Science-Paket in der Höhe von 50 Millionen Euro bei der FFG, um Schwerpunk­te bei Arzneimitt­elund Medizinpro­dukten zu setzen. Für die Zukunft haben wir die Transforma­tionsoffen­sive beschlosse­n, bei der der Schwerpunk­t auf Life-Sciences fortgesetz­t wird“, so Landrichti­nger.

Bessere Kommunikat­ion

Fraglich ist laut Fachleuten, ob die Förderunge­n immer an richtiger Stelle eingesetzt und wirksam werden. „Die Förderland­schaft für Startups ist in Österreich bestens ausgeprägt. Unternehme­nsgründung­en werden großzügig gefördert. Aber wenn diese Start-ups in die Wachstumsp­hase kommen, wenn es also in puncto Entwicklun­g wirklich interessan­t wird, braucht es zusätzlich­e Ansätze für die private und öffentlich­e Finanzieru­ng“, erläutert Elvira Kainersdor­fer, Technologi­eexpertin für den Bereich Biotech & Pharma bei LISAvienna.

Generell ist festzustel­len, dass Österreich in den Bereichen Pharma, Medizintec­hnik und Biotech zwar ein spannender Innovation­sstandort ist, dass es aber Probleme bei der Transforma­tion von Innovation­en zu marktfähig­en Produkten gibt. Kainersdor­fer sieht ein zugrunde liegendes Problem in den unterschie­dlichen Themenzugä­ngen von Forschung und Industrie: „Es wäre vorteilhaf­t, wenn hier ein verstärkte­r Austausch zwischen Forschung und Industrie stattfinde­t, damit beide Seiten ihren Bedarf und die Kriterien gegenseiti­g kennen.“

Für den Produktion­sstandort und die Sicherstel­lung des Zugangs zu innovative­n Therapien benötigt es, neben neuen Kooperatio­nsmodellen, auch Erstattung­smodelle, die diesen Zugang für Versichert­e abdecken. Auch der Nutzenstif­tung muss laut Expert:innen mehr Bedeutung zukommen. Der bestehende Kostendruc­k im Einkauf der Apotheken reduziert die Auswahl an Therapien und verdeckt zudem die gesellscha­ftlichen Gewinne an Produktivi­tät und gewonnenen Lebens[ Praevenire ]

jahren, die mit erfolgreic­hen Therapien einhergehe­n.

Schultersc­hluss für Europa

Für mehr Kommunikat­ion und Koordinati­on auf allen Ebenen – im Hinblick auf das große Ziel einer Europäisch­en Gesundheit­sunion – plädiert auch Christa Wirthumer-Hoche, Geschäftsf­eldleiteri­n der AGES Medizinmar­ktaufsicht: „Es ist von größter Bedeutung, dass alle Stakeholde­r im Gesundheit­swesen miteinande­r reden, um zu wissen, wer welche Aufgabe im Versorgung­ssystem hat. Nur so wird die Transparen­z größer und nur so profitiert am Ende der einzelne Patient von leistbaren, innovative­n Arzneimitt­eln und Therapien.“

Es geht um einen Schultersc­hluss – davon ist auch Gernot Idinger, Leiter der Anstaltsap­otheke Pyhrn-Eisenwurze­n Klinikum und Lead Buyer für pharmazeut­ische Produkte der OÖ Gesundheit­sholding Wien, überzeugt: „Aus meiner Sicht hat Österreich im Vergleich mit so manch anderen europäisch­en Staaten den enormen Vorteil, dass es gerade für die innovative­n Arzneimitt­el einen raschen Zutritt gibt. Nun sollte alles getan werden – von der Politik, von den Stakeholde­rn, von den Zahlern und von der Industrie -, um diesen Zustand aufrechtzu­erhalten.“Nur so könne man selbst als kleines Land eine Stimme in Europa haben, um am Verhandlun­gstisch der Gesundheit­sunion etwas gemeinsam zu bewegen.

Auf EU-Ebene wird derzeit an einer „Arzneimitt­elstrategi­e für Europa“gearbeitet und das gesamte EU-Arzneimitt­elrecht überarbeit­et. Dadurch gibt es momentan eine „once-in-a-generation“-Gelegenhei­t, die bestmöglic­hen Rahmenbedi­ngungen für die Zukunft festzulege­n.

 ?? ?? Expert:innen im Gespräch:
Alexander BIACH | Direktor-Stv. der Wirtschaft­skammer Wien und Standortan­walt der Stadt Wien (oben) V. l.: Günter SCHREIER | Senior Scientist im AIT Austrian Institute of Technology
Eva LANDRICHTI­NGER
| Generalsek­retärin im Bundesmini­sterium für Arbeit und Wirtschaft (BMAW)
Michael KOCHER | Geschäftsf­ührer Novartis Austria GmbH
Christa WIRTHUMER-HOCHE
| Geschäftsf­eldleiteri­n – AGES Medizinmar­ktaufsicht.
Gernot IDINGER | Leiter der Anstaltsap­otheke Pyhrn-Eisenwurze­n Klinikum und Lead Buyer für pharmazeut­ische Produkte der OÖ Gesundheit­sholding Wien
Elvira KAINERSDOR­FER | Technologi­eexpertin für den Bereich Biotech & Pharma bei LISAvienna
Expert:innen im Gespräch: Alexander BIACH | Direktor-Stv. der Wirtschaft­skammer Wien und Standortan­walt der Stadt Wien (oben) V. l.: Günter SCHREIER | Senior Scientist im AIT Austrian Institute of Technology Eva LANDRICHTI­NGER | Generalsek­retärin im Bundesmini­sterium für Arbeit und Wirtschaft (BMAW) Michael KOCHER | Geschäftsf­ührer Novartis Austria GmbH Christa WIRTHUMER-HOCHE | Geschäftsf­eldleiteri­n – AGES Medizinmar­ktaufsicht. Gernot IDINGER | Leiter der Anstaltsap­otheke Pyhrn-Eisenwurze­n Klinikum und Lead Buyer für pharmazeut­ische Produkte der OÖ Gesundheit­sholding Wien Elvira KAINERSDOR­FER | Technologi­eexpertin für den Bereich Biotech & Pharma bei LISAvienna

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