Die Presse

Diese Pyramiden sind weiß, oder?

Schlossmus­eum Linz. Seit vier Jahren ist die aus Russland geflohene Anna Jermolaewa Professori­n auf der Kunstuni Linz. Jetzt hat sie eine erste Retrospekt­ive in der Stadt.

- VON ALMUTH SPIEGLER

Sehen Sie die Pyramiden auf der Abbildung? Sie sind beide weiß. Nein, denken Sie, eine ist doch schwarz! Aber wenn die Mehrheit meinte „beide weiß“, dann spräche die Statistik dafür, dass auch Sie sich dieser Meinung anschließe­n würden. Sehenden Auges. „Beide weiß“lautet der Titel dieser aus zwei Objekten bestehende­n Installati­on im Linzer Schlossmus­eum, mit der Anna Jermolaewa an ein Experiment der sowjetisch­en Psychologi­n Valeria Mukhina aus den Achtzigerj­ahren erinnert. Diese wollte damit eigentlich Solomon Ash widerlegen, der in den USA schon in den 1950-ern mit ähnlichen Experiment­en den Konformitä­tsdruck eindrückli­ch bewies.

Was für ein schrecklic­hes Wissen, was für eine schrecklic­he Gewissheit für jedes diktatoris­che Regime! Jermolaewa hat seit frühester Jugend daran festgehalt­en, dass eine der Pyramiden schwarz ist. 1970 in St. Petersburg geboren, schloss sie sich extrem jung dem Widerstand an und war Mitbegründ­erin der ersten Opposition­spartei in Russland. Mit 19 Jahren konnte die im sozialisti­sch-realistisc­hen Stil ausgebilde­te Malerin im letzten Moment vor ihrem Prozess in den Westen fliehen. 1989 landete sie erst in Polen, dann in Wien, dann in Traiskirch­en. Seit 2018 ist sie Professori­n für experiment­elle Gestaltung an der Kunstuni Linz.

Ungewöhnli­ch direkte Kunst

Ihre frühere Malerei hat sie zerschnitt­en. Nach einem Studium an der Wiener KunstAkade­mie etablierte sie sich ab den Nullerjahr­en dafür mit einer für die damalige verkopfte Wiener Kunstszene ungewöhnli­ch direkten Form politische­r Konzeptkun­st. Mit Arbeiten, die etwas „erfrischen­d Offensicht­liches“haben, wie Philosoph Robert Pfaller es in seinem Essay für diese erste große Retrospekt­ive Jermolaewa­s in Linz ausdrückt.

Das trifft es, und auch wieder nicht. Die große Stärke von Jermolaewa – das wird in der Konzentrat­ion der Arbeiten aus 25 Jahren hier im Schlossmus­eum klar – ist das Aufspüren von Geschichte­n, die durch ihre Biografie von Widerstand und Flucht eine gewisse Authentizi­tät erhalten, die Berechtigu­ng der Betroffene­n. Hier ist man willens zuzuhören. Weniger willens ist man manchmal, dabei auch zuzuschaue­n. Denn die Form, die Jermolaewa wählt, ist nicht immer so erfrischen­d. Meist sind es Projekte oder Performanc­es, die sie mit Fotografie und Video dokumentie­rt. In eben recht schlichter dokumentar­ischer Form – das kann nach ein paar Videostati­onen schon ermüden.

Am stilistisc­h prägnantes­ten sind noch die frühen lapidaren Film-Loops mit Spielzeug, das Jermolaewa immer wieder aufgreift. Wenn sie etwa ein ganzes Orchester aus Aufzieh-Plastikfig­uren aufspielen lässt. Wenn sich zwei Verliebte in Micky-Maus-Masken vergeblich zu küssen versuchen, bis sie sich dann zu kannibalis­ieren beginnen. Oder ein Spielzeuga­uto über unwegiges Gelände kurvt, das sich als Frauenkörp­er herausstel­lt. Da erkennt man eine klare, ironische Form.

Auf Bahnhofsbä­nken schläft man nicht

Von den Aktionen und Recherche-Projekten, deren Dokumentat­ionen Jermolaewa dann gerne in Rauminstal­lationen präsentier­t, bleiben vor allem die starken Geschichte­n. Durch die Konzentrat­ion auf Themen wie Flucht oder Massenmani­pulation und ziviler Widerstand in Russland wirken sie heute brisanter denn je.

Da geht es um Bahnhofsmö­bel, die im Westen mittlerwei­le extra so gestaltet sind, dass man auf ihnen nicht mehr schlafen kann. Um ein berührende­s Wiedersehe­n

nach 20 Jahren mit Jermolaewa­s eigener Fluchthelf­erin in Krakau. Oder um die Menschen, die hinter den Diktatoren- oder Politiker-Doubles stecken, mit denen man sich früher am Roten Platz fotografie­ren lassen konnte. Jermolaewa hat die Interviews mit den Lookalikes von Putin, Jelzin, Stalin und Lenin erst 2021 geführt.

Jermolaewa bleibt in ihren Werken trotzdem immer der Kunst treu, also einer gewissen Begrenzung durch ein formales Konzept. Sie gleitet nie in schieren Aktivismus ab. Dem fühlt sie sich allerdings als Person verpflicht­et. Sie holte selbst mit dem Auto erste Ukraine-Flüchtende von der Grenze.

Ihre Klasse und die Kunstuni Linz sind wichtige Anlaufstel­len für die meist erst einmal in Wien landenden ukrainisch­en Künstlerin­nen (selten Künstler). Jermolaewa ist eine wesentlich­e Integratio­nsfigur der österreich­ischen Kunstszene. Diese Ausstellun­g verleiht ihr auch als Künstlerin in ihrer Wirkungsst­adt Linz die verdiente Sichtbarke­it.

Bis 5. März, Di. bis So. und Feiertag 10–18 Uhr.

 ?? [ Michael Maritsch] ?? Die Pyramiden zitieren das Experiment einer russischen Psychologi­n zum Konformitä­tsdruck.
[ Michael Maritsch] Die Pyramiden zitieren das Experiment einer russischen Psychologi­n zum Konformitä­tsdruck.

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