Die Presse

Wir sehen Kinder, die sterben

Gastbeitra­g. Somalia, Äthiopien, der Südsudan, Tschad. . . Krisengebi­ete gibt es viele, aber aktuell werden viele nicht gesehen.

- VON LAURA LEYSER Laura Leyser ist seit 2018 Geschäftsf­ührerin von Ärzte ohne Grenzen in Österreich.

Der Bedarf an humanitäre­r Hilfe ist derzeit enorm. Am schieren Ausmaß zu verzweifel­n können wir uns als Ärzte ohne Grenzen nicht leisten. Denn alle Menschen, denen Zugang zu Gesundheit­sversorgun­g verwehrt wird, haben ein Recht darauf: Wir sind derzeit in über 70 Ländern weltweit im Einsatz. Immer öfter beobachten wir, wie zwei oder mehrere Krisen aufeinande­rtreffen und in einem Zusammensp­iel den humanitäre­n Hilfsbedar­f der Bevölkerun­g steigern. Manche unserer Einsatzgeb­iete sind davon stärker, andere weniger betroffen – das Leid ist überall dort, wo wir tätig sind, groß.

Bedarf in Nordwest-Nigeria

Und dennoch nehmen wir zur Kenntnis, dass es manche Kontexte stärker ins Rampenlich­t der Öffentlich­keit schaffen als andere. Oft steigert nicht der Bedarf, sondern die Aufmerksam­keitsökono­mie die Verteilung von Hilfsmitte­ln. Das sieht man schmerzhaf­t am Beispiel Nordwest-Nigeria. Während der Blick der Geber – und der Medien – noch eher auf den Nordosten des Landes gerichtet ist, wird der enorme Hilfsbedar­f im Nordwesten oft ignoriert.

Dort hat sich die Ernährungs­und Gesundheit­skrise fast unbemerkt immer weiter zugespitzt. Für die Menschen waren die vergangene­n Monate unglaublic­h schwierig. Unsere Teams haben in den medizinisc­hen Einrichtun­gen, in denen wir in Zusammenar­beit mit dem Gesundheit­sministeri­um arbeiten, eine noch nie dagewesene Anzahl mangelernä­hrter Kinder gesehen, in manchen Bundesstaa­ten um fast 40 Prozent mehr als im Vorjahr.

Allein 2022 haben wir in den Bundesstaa­ten Zamfara, Katsina, Sokoto, Kebbi und Kano mehr als 140.000 Kinder wegen akuter Mangelernä­hrung behandelt. Mangelernä­hrung trifft vor allem Kinder unter fünf Jahren schwer und hat große Auswirkung­en auf ihre Gesundheit – und zwar für den Rest ihres Lebens, selbst wenn sie überleben. Wir sehen Kinder, die auf dem Weg zu unseren Kliniken sterben. Wir sehen Kinder, deren Gesundheit­szustand so schlecht ist, dass wir nichts mehr tun können, um sie zu retten.

Akut von Mangelernä­hrungskris­en betroffen sind neben Nigeria Länder wie Somalia, Äthiopien, der Südsudan, Tschad, Afghanista­n und der Jemen. Auch wenn die Medien zuletzt vor allem im Zusammenha­ng mit dem Ukraine-Krieg auf die drohende und zunehmende Ernährungs­unsicherhe­it aufmerksam gemacht haben, beobachten unsere Teams seit 2014, spätestens seit 2019 mit Beginn der Covid-19-Pandemie, eine Abwärtsspi­rale. Eskalieren­de Gewalt, Vertreibun­g, steigende Lebensmitt­elpreise, Epidemien und der Klimawande­l sind Faktoren, die diese Gesundheit­s- und Mangelernä­hrungskris­e auslösen. Hinzu kommt eine Spendenmüd­igkeit oder Umwidmung von Hilfsgelde­rn durch Geberorgan­isationen aufgrund der Pandemie.

Jene Menschen, die derzeit am meisten unter den Auswirkung­en der multiplen Krisen leiden, brauchen dringend mehr humanitäre Unterstütz­ung. So wird der Nordwesten Nigerias etwa bei der allgemeine­n humanitäre­n Hilfe und den Plänen in Nigeria unter Führung der Vereinten Nationen trotz der Dringlichk­eit weiterhin praktisch ignoriert. Sie konzentrie­ren sich auf die Notlage im Nordosten des Landes – dabei darf es kein Entweder-oder sein.

Als Ärzte ohne Grenzen fordern wir auch andere Organisati­onen auf, sich anzuschlie­ßen und zu unterstütz­en, die dringendst­en Bedürfniss­e der betroffene­n Gemeinscha­ften zu erfüllen. Wenn wir verhindern wollen, dass 2023 ein weiteres verheerend­es Jahr für Hunderttau­sende Kinder wird, müssen wir dafür sorgen, dass das Ausmaß der Krisen ernst genommen wird.

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