Wir sehen Kinder, die sterben
Gastbeitrag. Somalia, Äthiopien, der Südsudan, Tschad. . . Krisengebiete gibt es viele, aber aktuell werden viele nicht gesehen.
Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist derzeit enorm. Am schieren Ausmaß zu verzweifeln können wir uns als Ärzte ohne Grenzen nicht leisten. Denn alle Menschen, denen Zugang zu Gesundheitsversorgung verwehrt wird, haben ein Recht darauf: Wir sind derzeit in über 70 Ländern weltweit im Einsatz. Immer öfter beobachten wir, wie zwei oder mehrere Krisen aufeinandertreffen und in einem Zusammenspiel den humanitären Hilfsbedarf der Bevölkerung steigern. Manche unserer Einsatzgebiete sind davon stärker, andere weniger betroffen – das Leid ist überall dort, wo wir tätig sind, groß.
Bedarf in Nordwest-Nigeria
Und dennoch nehmen wir zur Kenntnis, dass es manche Kontexte stärker ins Rampenlicht der Öffentlichkeit schaffen als andere. Oft steigert nicht der Bedarf, sondern die Aufmerksamkeitsökonomie die Verteilung von Hilfsmitteln. Das sieht man schmerzhaft am Beispiel Nordwest-Nigeria. Während der Blick der Geber – und der Medien – noch eher auf den Nordosten des Landes gerichtet ist, wird der enorme Hilfsbedarf im Nordwesten oft ignoriert.
Dort hat sich die Ernährungsund Gesundheitskrise fast unbemerkt immer weiter zugespitzt. Für die Menschen waren die vergangenen Monate unglaublich schwierig. Unsere Teams haben in den medizinischen Einrichtungen, in denen wir in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium arbeiten, eine noch nie dagewesene Anzahl mangelernährter Kinder gesehen, in manchen Bundesstaaten um fast 40 Prozent mehr als im Vorjahr.
Allein 2022 haben wir in den Bundesstaaten Zamfara, Katsina, Sokoto, Kebbi und Kano mehr als 140.000 Kinder wegen akuter Mangelernährung behandelt. Mangelernährung trifft vor allem Kinder unter fünf Jahren schwer und hat große Auswirkungen auf ihre Gesundheit – und zwar für den Rest ihres Lebens, selbst wenn sie überleben. Wir sehen Kinder, die auf dem Weg zu unseren Kliniken sterben. Wir sehen Kinder, deren Gesundheitszustand so schlecht ist, dass wir nichts mehr tun können, um sie zu retten.
Akut von Mangelernährungskrisen betroffen sind neben Nigeria Länder wie Somalia, Äthiopien, der Südsudan, Tschad, Afghanistan und der Jemen. Auch wenn die Medien zuletzt vor allem im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg auf die drohende und zunehmende Ernährungsunsicherheit aufmerksam gemacht haben, beobachten unsere Teams seit 2014, spätestens seit 2019 mit Beginn der Covid-19-Pandemie, eine Abwärtsspirale. Eskalierende Gewalt, Vertreibung, steigende Lebensmittelpreise, Epidemien und der Klimawandel sind Faktoren, die diese Gesundheits- und Mangelernährungskrise auslösen. Hinzu kommt eine Spendenmüdigkeit oder Umwidmung von Hilfsgeldern durch Geberorganisationen aufgrund der Pandemie.
Jene Menschen, die derzeit am meisten unter den Auswirkungen der multiplen Krisen leiden, brauchen dringend mehr humanitäre Unterstützung. So wird der Nordwesten Nigerias etwa bei der allgemeinen humanitären Hilfe und den Plänen in Nigeria unter Führung der Vereinten Nationen trotz der Dringlichkeit weiterhin praktisch ignoriert. Sie konzentrieren sich auf die Notlage im Nordosten des Landes – dabei darf es kein Entweder-oder sein.
Als Ärzte ohne Grenzen fordern wir auch andere Organisationen auf, sich anzuschließen und zu unterstützen, die dringendsten Bedürfnisse der betroffenen Gemeinschaften zu erfüllen. Wenn wir verhindern wollen, dass 2023 ein weiteres verheerendes Jahr für Hunderttausende Kinder wird, müssen wir dafür sorgen, dass das Ausmaß der Krisen ernst genommen wird.