Warum Ärzte keinen Kassenvertrag wollen
Der Mangel an Vertragsärzten ist vor allem eine Absage an die Arbeitsweise in einer Kassenordination. Geld oder Work-Life-Balance spielen eine untergeordnete Rolle. Was es braucht, ist in erster Linie eine Reform des Honorarsystems.
Wie schwach ausgeprägt der Wille zur Behebung des Kassenärztemangels in Österreich ist, zeigt die jüngste Aussage von Bernhard Wurzer, Generaldirektor der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). „97 Prozent der Kassenstellen sind besetzt, vereinzelt gibt es Nachbesetzungsprobleme“, sagte er im Interview mit der „Presse“. Was er nicht dazugesagt hat: Der Stellenplan ist veraltet. Angesichts des Bevölkerungswachstums ist der Bedarf an Ärzten mit Kassenvertrag stark gestiegen, nicht aber deren Zahl.
Zur Veranschaulichung: Anfang 2022 waren in Österreich 19.285 niedergelassene Ärzte gemeldet. 10.944 von ihnen haben keinen Kassenvertrag, sind somit Wahlärzte. Ergibt eine Differenz von 8341 Kassenärzten. Vor zehn Jahren ordinierten noch 8431 Ärzte mit Kassenvertrag – also mehr als heute. Als Wahlärzte waren 7972 tätig. Insgesamt gab es damit 16.403 Ärzte mit Praxen.
Besonders deutlich ist der Anstieg der Wahlärzte in den Fächern Kinder- und Frauenheilkunde zu beobachten. Arbeiteten 2012 noch 240 Kinderärzte ohne Vertrag, waren es 2022 schon 332. Bei Gynäkologen nahm die Zahl von 685 auf 872 zu. In beiden Fächern ist die Zahl der Kassenordinationen im selben Zeitraum gesunken – bei Kinderärzten von 323 auf 292, bei Gynäkologen von 560 auf 501. Daher gelten sie als sogenannte Mangelfächer – offene Stellen können trotz mehrfacher Ausschreibung nicht besetzt werden. Zu einem Mangelfach entwickelt sich auch die Allgemeinmedizin. Ein Beispiel aus Tirol: 1982 gab es in Kufstein acht Kassenordinationen – bei etwa 14.500 Einwohnern. Alle waren ausgelastet. Heute hat die Stadt 20.000 Einwohner plus 2000 Fachhochschulstudierende – und immer noch acht Kassenstellen, von denen nur sechs besetzt sind.
Rasch durchschleusen
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Ansturm auf Kassenordinationen nur dann zu bewältigen ist, wenn so viele Patienten wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich durchgeschleust und dabei so viele Untersuchungen wie möglich durchgeführt werden. Nur dann rentiert sich eine Kassenpraxis auch, denn das Honorarsystem sieht für ein halbstündiges Aufnahmegespräch nur zwölf Euro vor, Wahlärzte verlangen mindestens das Fünffache. Hier liegt der Knackpunkt. Der am häufigsten genannte Grund für Ärzte, auf einen Kassenvertrag zu verzichten und stattdessen als Wahlarzt zu arbeiten, ist mehr Zeit für ihre Patienten. 40 bis 50 Personen
pro Tag zu empfangen und für jeden von ihnen wenige Minuten zu haben, ist für den Großteil der Mediziner, die im niedergelassenen Bereich tätig sein wollen, die ultimative Abschreckung.
So, wie sich die Einstellung jüngerer Generationen zu Arbeit, Karriere und Geld generell verändert hat, so hat sie sich auch bei Jungärzten hinsichtlich der Ansprüche an ihren Alltag verändert. Sich intensiver und gründlicher mit ihren Patienten zu beschäftigen und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen hat an Bedeutung gewonnen. Parallel zu dieser Entwicklung kam es auch zu einer Änderung der Ansprüche bei den Patienten selbst – sie fordern mehr Aufmerksamkeit und ausführliche Erklärungen für Diagnosen und Therapien ein. Den unantastbaren Arzt, dessen Aussagen und Rezepte nicht infrage gestellt werden, gibt es nicht mehr – wohl auch wegen des leichteren Zugangs zu Informationen in Zeiten digitaler und sozialer Medien.
Mehr Privatpatienten
Hinzu kommt, dass sich eine Wahlarztordination aufgrund der Entwicklungen der vergangenen ein, zwei Jahrzehnte zunehmend lohnt – denn wegen der langen Wartezeiten auf Termine bei Kassenärzten und der raschen, häufig unbefriedigenden Abfertigung dort sind mehr Patienten dazu bereit, Wahlärzte privat zu bezahlen und einen Teil des Honorars von ihrer Sozialversicherung zurückzuholen. Zudem nimmt die Zahl der Patienten mit Zusatzversicherung laufend zu – mit Polizzen, die auch Wahlarzthonorare abdecken. Zu einer Kassenordination gibt es also eine echte Alternative.
Nicht zuletzt wollen viele Ärzte sowohl eine Praxis betreiben als auch in einem Spital arbeiten, um beispielsweise an Forschungsprojekten teilzunehmen. Für Kassenärzte ist das aber de facto unmöglich, weil die vorgegebenen Mindestöffnungszeiten von 20 Wochenstunden eine zusätzliche Beschäftigung nicht zulassen. Wahlärzte hingegen sind frei in der Gestaltung ihres Parteienverkehrs, weswegen knapp die Hälfte von ihnen ihre Ordination zusätzlich zu einer Anstellung in einem Krankenhaus betreibt.
Reform statt Stipendien
Stipendien für Medizinstudierende, die sich verpflichten, nach Abschluss ihrer Ausbildung eine Kassenordination zu eröffnen, und großzügige Prämien für Jungärzte, die sich in ländlichen Regionen niederlassen, um die medizinische Versorgung der dortigen Bevölkerung zu gewährleisten, können das Problem des Kassenärztemangels nicht lösen. Genauso wenig wie die Aufstockung der Zahl der Kassenstellen,
denn dadurch würden lediglich mehr Ärzte am Kuchen naschen, die Arbeitsweise aber würde sich nicht ändern.
Unter den derzeitigen Voraussetzungen wird daher ein Kassenvertrag in zahlreichen Fächern wie etwa Allgemeinmedizin, Kinderund Jugendheilkunde, Kinderpsychiatrie sowie Gynäkologie nur dann wieder attraktiv und erstrebenswert, wenn er den Ärzten ermöglicht, sich ausreichend Zeit für ihre Patienten zu nehmen. Wenn also die Tarife für Gespräche spürbar erhöht werden – und die Sozialversicherungen in Kauf nehmen, dass die Abrechnung von Gesprächen schwer zu kontrollieren ist und einen gewissen Spielraum für Missbrauch eröffnet. Das ist nämlich der Hauptgrund dafür, dass dieser Schritt bisher nicht gewagt wurde.
Mehr Kassenstellen und eine Aufhebung oder zumindest Reduktion der Mindestöffnungszeiten für Kassenordinationen braucht es natürlich dennoch, damit Vertragsärzte auch in Spitälern arbeiten können. Ja, das alles ist kompliziert und teuer. Aber allemal Erfolg versprechender und nachhaltiger als 50 Stipendien für Studierende und Prämien für Absolventen. Um sie für eine Tätigkeit zu begeistern, die offensichtlich derart unbeliebt ist, dass sie belohnt werden muss.