Die Chance, Krebszellen gezielter abzutöten
Molekularbiologin Barbara Mair erklärt, warum paraloge Gene in der Krebstherapie in Zukunft eine große Rolle spielen könnten.
Seit 2020 ist Barbara Mair bei Boehringer Ingelheim im Krebsforschungszentrum in Wien und beschäftigt sich damit, neue Angriffspunkte zu finden, gegen die sich in Zukunft Medikamente zur Krebstherapie entwickeln lassen könnten. Einen vielversprechenden Ansatz liefern sogenannte Paraloge.
Was sind Paraloge und inwiefern sind sie für die Krebsforschung relevant?
Barbara Mair: Paralog ist im Prinzip ein Überbegriff für eine Gruppe an Genen und bedeutet, dass sich ein Gen im Laufe der Evolution verdoppelt und unter Umständen divergierende Funktionen angenommen hat. In unserem menschlichen Genom existieren viele Paraloge. Der Grund, warum die „Kopien“behalten wurden und nicht verlorengegangen sind, obwohl man vielleicht nur eines bräuchte, liegt einerseits darin, dass sie überlappende als auch unterschiedliche Funktionen haben. Es dient auch als Puffersystem: Wenn ein Gen ausfällt, kann das übrig gebliebene diesen Defekt kompensieren.
Prinzipiell lässt sich dieses Spiel auch umdrehen: Nimmt man einer Krebszelle, die im Zuge ihrer bösartigen Veränderungen ein Paralog verloren hat, durch ein Medikament auch noch das zweite Paralog (die „Absicherung“), stirbt sie ab, während normale Zellen ohne bösartige Veränderung durch so ein Medikament nicht beeinträchtigt wären.
Wie weit ist die Forschung auf diesem Gebiet?
Nachdem die genetische Abhängigkeit zweier Paraloge voneinander bewiesen wurde, geht es nun darum herauszufinden, wie die Anwendung vorangetrieben werden kann. Hier liegt der Teufel im Detail, weil beide Paraloge sehr ähnlich sind. Will
man nur eines von beiden adressieren, besteht die Schwierigkeit darin, Substanzen zu finden, die das eine Gen binden, gleichzeitig das andere Paralog aber nicht. In weiterer Folge forschen wir daran, ob die Effekte in einem ganzen Organismus nachweisbar sind, ob sie auch im Tierversuch halten und wie es um die Toxizität auf normale Zellen bestellt ist. Wir sind also noch ganz am Anfang. Es gibt viele Paralogabhängigkeiten und es muss noch intensiv erforscht werden, wie sie wirklich wirken.
Lässt sich sagen, welche Paralogabhängigkeiten am vielversprechendsten sind?
Wir haben Abhängigkeiten zwischen Paralogen beobachtet, von denen eines auf dem X-Chromosom und eines auf dem Y-Chromosom sitzt. Das Interessante daran für die Krebsforschung ist, dass es relativ viele Tumore gibt, in denen das Y-Chromosom komplett verloren gegangen ist. Damit ist das Y-Paralog aus dem Spiel und die Krebszelle ist stark vom X-Paralog abhängig. Ließe sich das XParalog mit einem Molekül inhibieren, könnte der Tumor, der kein YParalog mehr besitzt, ausgeschaltet werden. Unsere Aufgabe ist es nun, dieses Molekül zu entwickeln.
Welche Relevanz hat die Plattform opn.Me bei Boehringer Ingelheim bei der Forschung rund um Paraloge?
Wir haben auch Studien an Paralogen durchgeführt, zu denen es bereits ein Molekül gibt. Zum Beispiel SMARCA2 und SMARCA4, ein Paralogpaar, das bei Lungenkrebs eine relevante Rolle spielt. SMARCA4 ist in Tumorzellen oft nicht funktionell, daher haben wir ein Molekül entwickelt, das zum Abbau von SMARCA2 führt. Dieses Molekül stellen wir der wissenschaftlichen Gemeinschaft über die Plattform opn.Me für weiterführende Experimente zur Verfügung. Die Wissenschaftler:innen profitieren, weil sie auf gut getestete Moleküle zurückgreifen können. Aber auch wir haben einen Mehrwert, weil wir über unsere eigenen Substanzen neue Daten erhalten aus Tests und Modellszenarien, die wir selbst nicht durchgeführt hätten. Zudem ist es für uns eine gute Möglichkeit, in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu agieren und uns auszutauschen.
Viele weiterführende Kooperationen entstehen über die Aktivität auf der Plattform.
Welchen Vorteil hätten Patient:innen von dem neuen Ansatz einer Krebstherapie?
Im Optimalfall können Medikamente entwickelt werden, mit denen sich Tumorzellen direkter angreifen lassen und gesunde Zellen unbeschadet bleiben. Das hat natürlich auch den Effekt, dass es kaum Nebenwirkungen geben würde. Aber von Medikamenten sind wir derzeit noch weit entfernt und es bedarf noch sehr viel Forschung. Aber das Gute ist, dass unsere Pipeline ja nicht leer ist und wir bei Boehringer Ingelheim parallel an mehreren Projekten forschen. Auf dem Gebiet der Tumore mit KRASMutationen gibt es große Fortschritte. Allen voran auf dem Gebiet der Tumore mit KRAS-Mutationen, für die erst kürzlich die ersten Inhibitoren für eine Untergruppe dieser Tumore die klinische Zulassung erhalten haben. Wir selbst forschen aktiv daran, noch weitere Untergruppen behandeln zu können.