Die Presse

„Für Klimaforsc­her war die Pandemie ein Déj`a-vu“

Wie kann die Wissenscha­ft die Politik beraten? Gerald Haug, Präsident der Deutschen Akademie der Naturforsc­her Leopoldina, und Heinz Faßmann, Präsident der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften, diskutiert­en über ihre Coronalehr­en.

- VON ULRIKE WEISER

Die Presse: Die Leopoldina hat in der Pandemie eine sehr aktive Rolle eingenomme­n und hat sich öffentlich zu Wort gemeldet – z. B. in Ad-hoc-Stellungna­hmen. Die Österreich­ische Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) hat das nicht getan, sondern nur einzelne Mitglieder. Warum?

Heinz Faßmann: Sie haben den Unterschie­d schon treffend gekennzeic­hnet. Die ÖAW hat sich mit Stellungna­hmen zurückgeha­lten, einzelne unserer Wissenscha­ftler aber waren sehr aktiv. Wie Andreas Bergthaler vom Cemm (Forschungs­zentrum für Molekulare Medizin) oder Ulrich Elling vom Imba (Institut für Molekulare Biotechnol­ogie). Ohne sie hätten wir gar nicht gewusst, welche Virusvaria­nten unterwegs sind. Als Forschungs­institutio­n waren wir also sehr engagiert. Gerald Haug: Das Ziel unserer Adhoc-Stellungna­hmen, aber auch unserer längerfris­tigen Perspektiv­en war, unser breites inter- und transdiszi­plinäres Wissen zu bündeln. An der Erstellung der zehn Ad-hoc-Stellungna­hmen zu verschiede­nen Aspekten der Coronapand­emie waren insgesamt circa 90 Kolleginne­n und Kollegen unterschie­dlicher Fachdiszip­linen beteiligt.

Auf der Leopoldina-Homepage wird Politik- und Gesellscha­ftsberatun­g explizit angeführt. Bei der ÖAW-Seite kommt das gar nicht vor. Kann man die Häuser hier überhaupt vergleiche­n?

Faßmann: Wir sind von der Tradition und der gesetzlich­en Verankerun­g her anders angelegt. Die ÖAW soll die Wissenscha­ft in ihrer gesamten Breite fördern, sie ist auf die Grundlagen­forschung ausgericht­et – die politische Beratungst­ätigkeit steht nicht im Fokus. Mit der Präsidents­chaft Faßmann wird sich das ändern. Die Leopoldina hat in der Pandemie sehr gut agiert. Wenn wir kluge Beratungsf­ormate finden, werden wir sie importiere­n.

Haug: Uns wurde die wissenscha­ftsbasiert­e Politikber­atung mit der Änderung unseres Status zur Nationalak­ademie ja ins Pflichtenh­eft geschriebe­n. Sie ist unsere Kernaufgab­e. In Deutschlan­d findet viel an Beratung in den von der Politik einberufen­en Gremien statt. Wenn wir eine Arbeitsgru­ppe zur Politikber­atung aufstellen, sind wir dabei vollkommen unabhängig. Wir machen keine Auftragsar­beit. Wir antizipier­en ein Thema eigenständ­ig und behandeln es wissenscha­ftsbasiert. Institutio­nen wie uns wurde oft vorgeworfe­n: Ihr seid viel zu langsam. Wir haben in der Pandemie gelernt, unsere Prozesse zu beschleuni­gen.

Wie haben Sie die Politik in der Pandemie als Gegenüber erlebt?

Haug: Sehr konstrukti­v, auch dank einer Bundeskanz­lerin, die Naturwisse­nschaftler­in ist. Die Schwierigk­eit lag darin, dass immer, wenn wir präventive Maßnahmen empfahlen, die Politik in ein Dilemma geriet. Man hätte mit einfachen Dingen wie einer frühzeitig­en Maskenpfli­cht vielleicht Schulschli­eßungen vermeiden können. Doch da schlägt das Prävention­sparadoxon zu (Anm.: vermiedene Risiken bleiben unsichtbar). Am schwierigs­ten für die deutsche Politik war aber das Zusammensp­iel von Bund und Ländern im Föderalism­us.

In Österreich fühlten sich manche Wissenscha­ftler von der Politik instrument­alisiert oder beklagten Interventi­onen. Allerdings ging es hier eben um Experten, die in den von der Politik einberufen­en Gremien saßen. Sie kennen das gar nicht?

Haug: Es gab seltene Versuche, aber man hat schnell verstanden, dass die Leopoldina unabhängig

ist. Das ist der Unterschie­d zu den von der Politik eingesetzt­en Gremien. Zwar dürfen auch diese unabhängig arbeiten, aber schon die Auswahl, wer in dem Gremium sitzt, gibt natürlich eine Richtung vor.

Herr Faßmann, wie haben Sie als Bildungs- und Wissenscha­ftsministe­r die Wissenscha­ft als Gegenüber erlebt? Sie wollten die Schulen offen halten und wurden von Landespoli­tikern, aber auch einigen Forschern kritisiert.

Faßmann: Es war vor allem eine unglaublic­he Zeit. Ohne Wissenscha­ft hätten wir keine AntigenTes­ts, keinen Impfstoff, kein Abwasser-Monitoring gehabt. Meine Zusammenar­beit mit der Wissenscha­ft war gut, weil wir die gleiche Sprache gesprochen haben. Kritisiert wurde ich von manchen, weil sie sich nicht zu hundert Prozent durchgeset­zt haben. Die Interessen­abwägung – Schule schließen oder nicht – muss letztlich die Politik führen. Das haben nicht alle eingesehen.

Experten haben auch Luftfilter und CO2-Messgeräte für die Schulen gefordert. Sie haben damals gesagt: „Für das Lüften reicht der Hausversta­nd.“Würden Sie das wieder so sagen?

Faßmann: Mich hat damals die Systemunke­nntnis überrascht. Die Kollegen haben mitten in der Pandemie gefordert, 58.000 Klassenzim­mer mit Luftfilter­anlagen in kurzer Zeit auszurüste­n. Ich kann aber nicht ins Geschäft gehen und mir 58.000 Anlagen einpacken lassen. Außerdem geht das nur dort, wo die räumlichen Gegebenhei­ten passen. Das ist ein längerer Prozess.

Welchen Hauptfehle­r haben damals Wissenscha­ft und Politik gemacht? Beginnen wir mit der Wissenscha­ft.

Haug: Es gab zu Beginn der Pandemie kaum Daten und wenig Wissen. Deswegen war das Abschätzen der Risiken äußerst schwierig. Wir haben es nicht gut genug geschafft, der Politik den präventive­n Charakter von Maßnahmen zu vermitteln, die vermutlich Lockdowns hätten vermeiden können. Für Klimaforsc­her wie mich war die Pandemie ein Déja`-vu-Erlebnis – nur eben im Extrem-Zeitraffer. Das, was ich in der Klimaforsc­hung seit 30 Jahren erlebe, ist hier teilweise in 30 Wochen passiert.

Was war der Fehler der Politik?

Faßmann: Ich habe lang über die eigene Rolle nachgedach­t. Hätte ich es wieder ähnlich gemacht? Ja, ich hätte es wieder machen müssen. Mein Kampf für eine möglichst lange Schule war wichtig, auch wenn ich mir Landespoli­tiker als Gegner eingehande­lt habe. Nachträgli­ch betrachtet waren die Beratergru­ppen vielleicht disziplinä­r zu einseitig besetzt. Eine weitere Erkenntnis ist, dass das Epidemiege­setz in dieser Form für eine moderne Gesellscha­ft nicht mehr geeignet ist. Es verleiht einem Minister eine unglaublic­he Macht, Freiheitsr­echte einzuschrä­nken. Es ist ein sehr dirigistis­ches Gesetz.

Sollten Freiheitsr­echte nicht mehr so leicht eingeschrä­nkt werden können?

Faßmann: Ja. Wir erleben ja bei dieser Wahl (Anm.: niederöste­rreichisch­e Landtagswa­hl) noch den Nachhall der Impfpflich­t. Wir leben in einer pluralisti­schen und individual­isierten Gesellscha­ft, da ist es schwierig, obrigkeits­staatlich so stark einzugreif­en.

War die Impfpflich­t ein Fehler?

Faßmann: Das kommt darauf an, wie Sie Fehler definieren. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob eine Impfpflich­t noch zeitgemäß ist.

Auch die Leopoldina hat eine Impfpflich­t für Berufsgrup­pen und die Vorbereitu­ng einer generellen Impfpflich­t empfohlen. Wie sehen Sie das heute?

Haug: Wir haben das frühzeitig empfohlen, als es noch Sinn gehabt hätte. Als sie dann für medizinisc­he Berufe kam, war es eigentlich zu spät. Omikron war ein Gamechange­r. Aber machen wir ein Gedankenex­periment: Wäre Omikron nicht nur unglaublic­h ansteckend, sondern so tödlich wie der Urtyp, dann wäre eine Impfpflich­t wichtig gewesen. China ist derzeit ein tragisches Experiment. Aber was wäre dort los, würde Delta durchrausc­hen? Man musste damals oft mit wenig Daten schnell reagieren. Niemand hatte eine Kristallku­gel. Dass das jetzt in der politisch-medialen Diskussion oft ausgeblend­et wird, ärgert mich.

Kommen wir zum Anlass Ihres Besuchs und den neun „Wiener Thesen“zur wissenscha­ftlichen Politikber­atung. Darin heißt es u. a., dass Dissens in der Wissenscha­ft normal ist, aber transparen­t gemacht werden muss. Das klingt gut, doch praktisch stelle ich mir das so vor, wie wenn ein Patient zu drei Ärzten geht, die drei Therapien empfehlen, woraufhin er denkt: Wie soll ich es wissen? Und zum Schluss hört er auf den Arzt, der ihm sympathisc­h ist. Tatsächlic­h hatte in der Pandemie jeder Politiker „seinen“Experten. Wie löst man das? Haug: Die Kontrovers­e ist der Motor der Wissenscha­ft. Aber normalerwe­ise haben wir nicht die Geschwindi­gkeit wie in der Pandemie. Oder die Aufgeregth­eit. Kontrovers­en wurden nicht mehr auf Kongressen, sondern im Boulevard diskutiert. Dabei wurde übersehen, dass man meist auf einem 90-Prozent-Niveau diskutiert, also zu neunzig Prozent ist man sich einig, über zehn streitet man. Wenn aber die Zeitung diese zehn als die entscheide­nden darstellt, kommt es zu einer „False Balance“. Faßmann: Ich würde der Politik durchaus empfehlen, die Zusammenar­beit mit Institutio­nen wie der Leopoldina und der ÖAW zu suchen und auf deren Qualitätss­icherungss­ysteme zu vertrauen. Ich würde auch raten, weniger NGOs als Berater heranzuzie­hen, weil die per definition­em eine bestimmte Interessen­lage zu verfolgen haben.

Haug: Mir geht es um die vertiefte Expertise. Ich kenne das vom Klimathema: Jeder hat dazu eine Meinung, aber auch eine durch Medien informiert­e Meinung ist keine vertiefte Expertise. Akademien können eine Art wissenscha­ftlicher TÜV sein. Jeder und jede, der bei uns hineingewä­hlt wird, ist wissenscha­ftlich herausrage­nd. Zwar können vier Experten immer noch vier verschiede­ne Lösungsans­ätze haben, aber sie können diese priorisier­en und sagen, welcher wahrschein­lich in der konkreten Situation der beste wäre.

Sie sagten: Man streitet über zehn Prozent. Wir hatten aber wilde Grundsatzd­iskussione­n. Der frühere Chef der Ages sagte, Masken bzw. unsere Art, sie zu verwenden, brächten nichts.

Haug: Man kann in diesen Fällen bei uns nachfragen. Wir haben uns oft vornehm zurückhalt­end über den Unsinn geärgert, der im Namen der Wissenscha­ft erzählt wurde. Es gab ja kaum eine Talkshow ohne Wissenscha­ftler. Viele, die das vertiefte Wissen hatten, haben das aber schnell aufgegeben, weil es sehr anstrengen­d und manchmal bedrohlich wurde.

Faßmann: Das Beispiel mit der Maske ist übrigens ein typisches False-Balance-Beispiel. Es gab den einen Kollegen von der Ages mit dieser Meinung, die er später geändert hat – aber nicht viel mehr.

Wie sehen Sie denn den Stand der Wissenscha­ftsberatun­g bei Long Covid? Aus den USA hört man, dass es nicht nur im Gesundheit­ssystem ein Problem ist, sondern auch auf dem Arbeitsmar­kt. Aus Österreich und Deutschlan­d hört man dazu wenig.

Akademien können eine Art wissenscha­ftlicher TÜV sein.

Gerald Haug, Präsident der Leopoldina

Ich bin mir nicht sicher, ob eine Impfpflich­t noch zeitgemäß ist.

Heinz Faßman, Präsident der ÖAW

Haug: Wir hatten vor eineinhalb Wochen ein Onlinesemi­nar zu Long Covid mit unglaublic­h hoher Beteiligun­g – 900 Leute. Wir konnten vier exzellente internatio­nale Experten zusammensc­halten. Die ernüchtern­de Analyse ist: Man bekommt eine Diagnose hin, aber es gibt nach wie vor keine Therapie. Nur die Hoffnung, dass es mit der Zeit – wir reden über Monate – besser wird.

Faßmann: Manchmal nimmt man aus Interviews Arbeitsauf­träge mit. Wir haben uns bis jetzt tatsächlic­h wenig mit Long-Covid-Forschung befasst. Wir werden uns dessen annehmen müssen.

Zum Schluss noch einmal zum Klima: In Wien solidarisi­eren sich Wissenscha­ftler wie Reinhard Steurer von der Boku mit den Klimaklebe­rn. Wie aktivistis­ch darf Wissenscha­ft sein?

Haug: Für unsere Häuser ist Aktivismus keine Option. Wir Klimaforsc­her weisen ohnehin auf höchstem politische­n Niveau auf die Dringlichk­eit hin. Natürlich bin auch ich ungeduldig. Ich begrüße friedliche­n Protest, aber nichts, was in Richtung Aggression geht.

Faßmann: Die Wissenscha­ft ist im Hörsaal und der Aktivismus auf der Straße zu Hause. Für eine spezifisch­e politische Bewegung Partei zu ergreifen – das passt nicht zum Objektivit­ätsanspruc­h der Wissenscha­ft.

Haug: Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler dürfen aber natürlich offensiv kommunizie­ren, wenn sie dabei deutlich machen, ob es sich um faktenbasi­erte Erkenntnis­se handelt oder die eigene Meinung. Die Grenze zum Aktivismus ist schnell überschrit­ten.

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[ Caio Kauffmann ] Gerald Haug (l.) und Heinz Faßmann stellten in der Akademie der Wissenscha­ften ihre „Wiener Thesen“vor.

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