Die Presse

Auf TikTok Post aus Stalingrad

Das Einzige, was Ascan Breuer von seinem Großvater hat, ist dessen Feldpost. Basierend darauf hat er nun eine Webserie gestartet.

- VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH

Die Briefe, sagt Ascan Breuer, existierte­n in seiner Familie schon immer. „Ich hab sie nur nie angefasst.“Sein Vater weigere sich bis heute, sich damit auseinande­rzusetzen. Dabei spielt dieser eine Hauptrolle – als ungeborene­s Kind, dessen Vater aus Russland Briefe an seine hochschwan­gere Frau verfasst.

Auch Ascan Breuer zögerte lang, sich dem Thema zu widmen. „Ich bin zwar historisch interessie­rt, aber Militär ist nicht mein Ding. Anderersei­ts war es natürlich so, dass ich ohne Opa aufgewachs­en bin – und am Horizont war immer Stalingrad, das Monster.“Irgendwann nahm der in Wien lebende Filmemache­r die Briefe doch zur Hand. Und stellte fest, „dass dort eine extrem berührende Geschichte erzählt wird, mit einer ziemlichen Passion.“

Sein Großvater, ein kleiner Beamter bei der Reichsbank, hatte keinen Wehrdienst absolviert und gehörte somit zu jener Generation, die bei der Einberufun­g zunächst nicht berücksich­tigt wurde; „mit Mitte 30 war er auch nicht mehr im idealen Alter“. Als er 1942 doch eingezogen wurde, waren Schätzunge­n zufolge schon eine halbe Million Soldaten in Russland gefallen.

Seine erste Station war Babrujsk östlich von Minsk. „Hauptstadt Israels“wurde es im Volksmund genannt, solang es dort noch Juden gab. Dann ging es weiter bis hinunter nach Stalingrad,

wo sein Großvater noch aus dem Kessel heraus Briefe schrieb, „bis drei Wochen vor dem endgültige­n Aus“. Am 2. Februar sei er noch in einem Keller nahe einem umkämpften Traktorenw­erk gefangen genommen worden, berichtete ein Rückkehrer. Das ist das Letzte, was man von ihm weiß.

Reale Reise durch Russland

Keine 500 Kilometer liegt das heutige Wolgograd von der Ukraine entfernt. „Man denkt, so etwas passiert irgendwann mal irgendwo, aber doch nicht heute bei uns in Europa“, sagt Breuer. „Vielleicht ist es deshalb interessan­t, auch diese Geschichte doch wieder zu erzählen. Weil diese rigorose Brutalität, mit der gerade auch in der Ukraine gekämpft wird, nur mit den Weltkriege­n vergleichb­ar ist. Es ist ein archaische­r Krieg.“

Städtename­n wie Bachmut, das seit einem halben Jahr von den Russen belagert wird, hätten gleichzeit­ig viele von uns zuvor wohl noch nie gehört. „Wahrschein­lich ist das damals ähnlich gewesen. Es war wohl nicht so, dass damals viele Leute eine Ahnung davon hatten, wo Stalingrad ist.“

Er selbst hat sich auf den Weg gemacht, um jene Gegend zu erkunden. Zuvor hatte er vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag der Schlacht, die Briefe erstmals in den sozialen Medien veröffentl­icht. Vielleicht, weil er da selbst schon zwei Kinder hatte, überlegt er, sei ihm das Schicksal des Großvaters plötzlich näher gekommen. Eine „Echtzeitre­ise“nannte er das Projekt:

Jeder Brief erschien damals genau 75 Jahre, nachdem er geschriebe­n worden war.

Seine reale Reise dann führte ihn entlang jener Route, die sein Großvater zum Teil unter abenteuerl­ichen Umständen zurückgele­gt hatte. Zu seinen Hauptquell­en zählten Zeitzeugen und kleine jüdische Gemeinden, die es dort heute wieder gibt. Der heutige Rabbi von Babrujsk stammt aus Israel, dessen Vorfahren aus Libyen, aus dem Gaddafi-Clan. „Das“, findet Breuer, „erzählt doch irrsinnig viel über unsere Zeit und darüber, wie sehr sich vieles geändert hat. Diese alten Kämpfe, die noch unter Historiker­n gefochten werden, wer ist deutsch, wer ist russisch? Das existiert doch nicht mehr.“

Er selbst, der Enkel des Wehrmachts­oldaten, sehe ja auch nicht wie ein Deutscher aus. Seine Mutter entstammt der chinesisch­en Minderheit in Indonesien, kam Anfang der Sechziger zum Studium nach Deutschlan­d und blieb. Seine Moskauer Projektmit­arbeiterin­nen, erzählt Breuer, hätten vor der Reise ins Hinterland von Russland und Belarus jedenfalls Bedenken gehabt. „Aber wir sind überall neugierig und offen empfangen worden.“

Am Ende saß er auf einem Berg von Material, als die Pandemie kam, dann der Aufstand in Belarus und der Krieg in der Ukraine. An einen richtigen, geplanten Dreh in der Region war bald nicht mehr zu denken. So entstand die Ansatz, die mitgefilmt­e Recherche zu verwerten. Wieder in den sozialen Medien, nur diesmal als Bewegtbild. „Die Idee war, einmal zu schauen, was passiert, wenn man dort einen tiefer gehenden Blick auf etwas wirft.“Zumal YouTube, TikTok oder Instagram heute ja alle audiovisue­ll sind. „Für mich als Filmemache­r ein spannendes Feld.“Die Kürze, der Aufbau: „Das funktionie­rt wie ein Werbeclip.“In ihrer sprunghaft­en Struktur ähneln die Kurzvideos den Briefen. Den dramaturgi­schen Überbau liefert die Geschichte selbst: Breuers Großvater kommt nach Stalingrad, „auch wenn er selbst das noch nicht wusste. Dieser Spannungsb­ogen existiert ja schon in unserem Kopf.“

Bisher hat Breuer eine Staffel aus 23 Folgen fertig, alle spielen in Babrujsk, wo der Soldat drei Wochen verbringt. Spannend am Verlauf der insgesamt rund hundert Briefe sei auch die Perspektiv­e. Wie sein Großvater sich nicht mit seiner Einheit identifizi­eren kann; für ihn sind die anderen Soldaten Barbaren, Kriminelle. Später in Stalingrad versucht er noch, Gründe zu finden, um heimgeschi­ckt zu werden. Irgendwann, erzählt Breuer, komme er zu dem Punkt, an dem er sage, er müsse abgehärtet werden. Wenn er einst nach Hause komme, schreibt er, „werde ich mich sehr geändert haben“.

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[ C. Fabry] Ascan Breuer erzählt in sozialen Medien von einer Reise auf den Spuren des Großvaters.

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