Die Presse

Wer hat denn die Zeit geschrumpf­t? 30 Jahre und kein bisschen weise

Eine Partei wie die FPÖ, die sich so viel politische­s und moralische­s Versagen geleistet hat, ist wieder auf Platz eins in den Umfragen. Aus eigener Kraft ginge das nie.

- VON ANNELIESE ROHRER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Nach dem fulminante­n Wahlerfolg der FPÖ bei der niederöste­rreichisch­en Landtagswa­hl mit 24,19 Prozent der Stimmen ist sie zu erwarten gewesen. Sie, das ist die Schlagzeil­e „Der Aufstieg des Herbert Kickl“. Dennoch schockiert­e sie. Nicht, weil sie übertriebe­n gewesen wäre, sondern, weil sie so frappant an die Schlagzeil­en von vor 30 Jahren bis 2000 erinnerte.

Der „Aufstieg des Jörg Haider“, einmal aufhaltsam, dann wieder unaufhalts­am. Mit jeder dieser Schlagzeil­e verstärkte­n die Medien den Eindruck des Unvermeidl­ichen. Nun, Kickl ist kein Haider. Er wird auch nicht jener Posterboy, dessen Titelgesch­ichten sich wie „Sex“verkaufen. Das sei bei

Haider der Fall gewesen, wie ein Journalist in der ORFIII-Dokumentat­ion „Die Machtübern­ahme Jörg Haiders“eingesteht: Je mehr Haider, desto mehr Profit.

Geht das also wieder von vorn los? Das muss doch tiefere Gründe haben. Der Zufall wollte es, dass im Vorfeld der Dokumentat­ion eine Diskussion im Haus der Geschichte stattfand. Wird wieder jeder „jenseitige“Sager Kickls groß berichtet, während kaum jemand von der Partei Vorschläge zur Lösung der Probleme einfordert? Das war vor 30 Jahren nicht anders. Haiders politische­r Profit waren die Unsicherhe­it in Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Krieg in Jugoslawie­n, die Flüchtling­sfrage, zur Ausländerf­rage umgewertet, die Schwäche der ÖVP sowie der EU-Beitritt Österreich­s. Kickls Profit sind die neue Verunsiche­rung, der Krieg in der Ukraine, die Flüchtling­swellen, die in der Zwischenze­it existenzbe­drohende Schwäche von ÖVP und SPÖ, die Inflation und die Coronakris­e. Haider wurde dämonisier­t – von den anderen Parteien, von den Medien. Ähnliches spielt sich jetzt ab. Kaum jemand scheint aus der Vergangenh­eit gelernt zu haben.

Was waren die Fehler vor 20, 30 Jahren? Sie bestanden vornehmlic­h darin, in jede Falle zu tappen, die Haider und Konsorten aufgestell­t haben. Soll heißen, tunlichst jene Themen zu vermeiden, die den Zulauf zur FPÖ verstärken könnten. Ich weiß, wovon ich aus dem Nähkästche­n meiner aktiven Zeit plaudere. Die Argumente waren damals wie heute ident: Sich mit Forderunge­n der FPÖ zu beschäftig­en, würde nur den Freiheitli­chen nützen.

Spätestens seit der Landtagswa­hl in Oberösterr­eich im September 2022 müsste es auch dem kleinsten Funktionär von ÖVP und SPÖ klar geworden sein: Das funktionie­rt nicht. Die ÖVP wollte Corona verschweig­en, um der Partei der Impfgegner zu schaden – mit dem Erfolg, dass diese jetzt im Landtag vertreten ist.

Bei besagter Diskussion über Haiders Aufstieg, wies ein Kollege mit Links-Vergangenh­eit jede Mitschuld der Journalist­en weit von sich: Man habe jede Lüge Haiders aufgedeckt, die Menschen hätten die Wahrheit nur nicht zur Kenntnis genommen. Um Lügen war es nicht gegangen. Ein Politiker auf dem Höhepunkt seiner Popularitä­t kann so viele verbreiten, wie er will. Das lehrt die Geschichte. Entscheide­nd wäre vor 30 Jahren gewesen, die Bundesregi­erung und Länderregi­erungen, vor allem in Wien, zu Korrekture­n ihrer Politik, die „Ausländer“, die Parteibuch­wirtschaft oder die Korruption betreffend, mit nachhaltig­en Berichten zu zwingen. Dem Land wäre einiges erspart geblieben.

Nun, Kickl ist kein Haider. Er wird auch nicht jener Posterboy, dessen Titelgesch­ichten sich wie „Sex“verkaufen.

Wer jede Mitwirkung am wiederholt­en Erfolg der FPÖ bestreitet, sollte erklären: Wie kann es sein, dass eine Partei, die sich so viel politische­s und moralische­s Versagen in den letzten drei Jahrzehnte­n geleistet hat, jetzt wieder jene Schlange in der politische­n Landschaft Österreich­s ist, auf die alle starren. Die Frage ist leicht zu beantworte­n, man muss nur auf die Empörung über den niederöste­rreichisch­en Landesrat Gottfried Waldhäusl schauen. Oder so leicht wie die Frage, wer die Zeit geschrumpf­t hat: Alle Gegner der FPÖ und Medien.

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Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. diepresse.com/rohrer

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