Beratung kommt durch die Hintertür
Erwachsenwerden ist voller großer Fragen zu Identität, Beziehungen und Zukunft. Offene Jugendarbeit hilft unkompliziert. Wie genau, wird an der FH Campus Wien erforscht.
Eine Trennung steht bevor, hohe Schulden belasten oder ein Burn-out zeichnet sich ab – wer ein Problem hat, kann sich professionell Hilfe holen. „Man geht freiwillig zur Beratung hin und sitzt an einem Tisch mit einem Gegenüber, das bei der Lösung des Problems unterstützt. Das ist nicht nur das Bild von Beratung, das gesellschaftlich vorherrscht, sondern auch im Fachdiskurs sozialer Arbeit“, sagt der Sozialwissenschaftler Marc Diebäcker von der FH Campus Wien.
Aber Beratung kann ganz unterschiedliche Formen annehmen – und das tut sie vor allem in der Jugendarbeit. Wie genau das funktioniert, untersucht Diebäcker gemeinsam mit seiner Kollegin Manuela Hofer in einem EU-Projekt. Ihr Fokus liegt auf der Beratung in der sogenannten offenen Jugendarbeit, einem Feld, das von der Forschung bislang wenig beachtet wurde. Deswegen gibt es nicht nur generell wenig empirisches Wissen dazu, es existieren auch kaum Qualitätskriterien oder professionelle Konzepte für die Anforderungen daran.
Fallstudien in Stadt und Land
Bei offener Jugendarbeit handelt es sich um ein niederschwelliges Angebot für Jugendliche. „Jeder kann kommen und es annehmen, es ist an keine Bedingungen geknüpft“, erklärt Diebäcker. Hauptcharakteristikum ist die Freiwilligkeit. Hofer: „Das kann ein Raum, ein Jugendzentrum ohne Konsumzwang sein, in dem sich die jungen Menschen zu gewissen Zeiten treffen, abhängen und chillen können.“Vor Ort sind aber eben auch Fachkräfte als Ansprechpersonen bei allen möglichen Fragen, die darüber hinaus Themen wie politische Bildung oder Medienkompetenz pädagogisch aufbereiten können. So wird informelles Lernen möglich.
Auch aufsuchende Angebote, also Streetwork in Parks oder auf Sportplätzen, gehören zur offenen Jugendarbeit. „Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig diese Form der Beratung ist und was sie leisten
kann“, so Diebäcker. In der mittlerweile abgeschlossenen ersten Projektphase führten er und Hofer Fallstudien von unterschiedlichen Angeboten in Wien, Graz, Hall in Tirol und Attnang-Puchheim durch. „Wir waren als teilnehmende Beobachter in den Einrichtungen“, sagt Diebäcker. „Und es gab Gespräche mit den Kolleginnen, Kollegen und den Jugendlichen sowie Gruppendiskussionen.“
Ihre Ergebnisse bestätigen die Ausgangsthese des Projektes, dass in der offenen Jugendarbeit tatsächlich viel Beratung stattfindet, diese aber „anders ausschaut als erwartet – nämlich nicht nur im Büro, sondern oft nebenbei, zwischen Tür und Angel“, ergänzt Hofer. „Manchmal schleicht sich die Beratung in ein Alltagsgespräch, manchmal ist es Peer-Beratung, ohne explizit so benannt zu werden, etwa wenn Freundinnen auch teilnehmen und Tipps geben.“Die Jugendarbeiterinnen und -arbeiter werden als „besondere Erwachsene“wahrgenommen, die dabei helfen, den eigenen Weg zu finden.
Gefragt ist Unterstützung bei Identitäts- und Zukunftsthemen, genauso wie bei Problemen in der Schule oder daheim, bei Diskriminierung, Mobbing oder Sucht. Der Vorteil: Durch gemeinsame Freizeitaktivitäten gibt es meist schon eine Beziehungsebene, das bringt einen Vertrauensvorschuss. „Die niederschwellige Jugendarbeit ist ein wichtiges Bindeglied für den Sozialstaat, weil die Fachkräfte gegebenenfalls zu weiterführenden Unterstützungsangeboten vermitteln“, betont Diebäcker. Doch weil die Beratung herkömmlichen Vorstellungen
davon widerspricht, herrscht bei den Fachkräften selbst bisweilen Unsicherheit. Auch das zeigte die FH-Studie, deren Ergebnisse in die Lehrpläne fließen.
Erst kicken, dann beraten
„Unsere Forschung macht deutlich, dass diese Form der Beratung keine schlechtere oder niedere Form ist“, sagt Hofer. „Gerade die Zugänglichkeit bringt eine sehr spezifische Herausforderung mit sich, wenn man zum Beispiel aus einem Fußballspiel heraus ein Beratungssetting herstellen muss.“
Gleichzeitig sei die Offenheit ein wesentlicher Grund, warum Jugendliche das Angebot gern annehmen: „Sie kommen schnell aus der Situation heraus, wenn es ihnen zu nah geht.“Aktuell arbeiten Diebäcker und Hofer mit den Projektpartnern BOJA (Bundesweites Netzwerk offene Jugendarbeit) und AGJF (AG Freizeitstätten BadenWürttemberg) an Leitfäden für das Berufsfeld, damit u. a. dieses Umschwenken vom Alltag in eine Beratungssituation gut gelingt.
Beratung in der offenen Jugendarbeit findet oft nebenbei, zwischen Tür und Angel, statt.