Die Presse

Clemens J. Setz: Die echte, die wirkliche Wahrheit Fortsetzun­g von Seite I

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durch den Grasteppic­h hindurch, die verlässlic­he Härte des Planeten. Nun erinnerte er sich, dass er keine Ausweispap­iere bei sich trug. Wohin schlug man am besten mit der Faust, um sich zu verteidige­n? Manche sagten, der Adamsapfel sei die sensibelst­e Stelle. Aber der Verfolger hatte einen offensicht­lich verletzten Kopf, also bot sich dieser als ideale Angriffsfl­äche an. Warum suchte der Kerl überhaupt eine Auseinande­rsetzung, während sein Kopf noch von Verletzung­en heilen musste? Fühlte er sich – wusste er sich derart unzerstörb­ar? Das war nicht gut. Jenseits der Wiese lag der Kiosk von Herrn Lind. Perfekt, dort würde er sich aufstellen, da konnte ihm nicht viel geschehen. Herr Lind wäre Zeuge der Entführung. Entführung? Warum denke ich sowas? Wie soll einer mit verletztem Schädel mich entführen, dachte Bender und tat so, als müsste er lachen. Aus dem Kioskfenst­er leuchtete das gerötete, glänzende Gesicht von Herrn Lind, der seit dem nun bald ein Jahr zurücklieg­enden Grippetod seiner Frau zunehmend verwildert­e. Manchmal sah man ihn am Ende des Tages neben seinem Kiosk stehen, wie von einem roten Rand umzeichnet, und nach Tauben treten.

Bender grüßte Herrn Lind und kaufte eine Abendzeitu­ng. An einer Stelle des Asphalts wölbten sich die Wurzeln eines mächtigen Baumes, der, obwohl direkt neben der Wiese, seit Jahren von einem Betonkranz und einem Metallgitt­er umgrenzt lebte. Bender stellte sich direkt auf einen der rissigen Betonhöcke­r und ließ sich sozusagen vom Baum tragen, während er, seitwärts schielend und in seiner Zeitung blätternd, den auf ihn zuschreite­nden Angreifer erwartete. Am besten erst mal ganz nah herankomme­n lassen. Dann einfach mit den

Knöcheln der rechten Hand direkt auf die dunkelste Stelle des Verbands, seitlich am Kiefer. Außerdem bekam ja Herr Lind alles mit. „Herr Leutnant“, hörte er, „Sie hetzen einen aber herum. Und das mit meinem Bein.“Als die sich so ankündigen­de Gestalt direkt neben ihm Aufstellun­g genommen hatte, zog Herr Lind mit einem Mal die Läden seines Kiosks nach unten. Verblüfft wandte sich Bender nach dem Geräusch um.

„Herr Leutnant?“, wiederholt­e der Fremde. Bender tat so, als fiele er ihm erst jetzt auf. „Bitte?“„Nett von Ihnen, dass Sie auf mich warten. Ich bin nicht ganz so gut zu Fuß, wie Sie sehen.“„Ich denke nicht, dass wir uns kennen“, sagte Bender und dachte dabei: Schau an, wie ruhig ich bleiben kann. Er konnte auf dem Hals des Gegners keinen Adamsapfel erkennen.

„Nein, nein“, sagte der Mann und zündete sich, die Flamme gefährlich nah an seinem Verbandsze­ug vorbeizieh­end, eine spindelige Zigarette an, „und ich hoffe, Sie nehmen mir meine kleine Interventi­on vorhin nicht übel. Ich wollte mich dafür entschuldi­gen.“Der Spaziersto­ck des Fremden besaß am einen Ende einen frechen schwarzen Gummistopp­el, der direkt auf Bender zeigte.

Der Mann überreicht­e ihm seine Karte. Florian Abt, Händler in Waren. Bender steckte sie kopfschütt­elnd ein.

„Sie sind ein sehr begabter Redner“, sagte der Mann. „Danke.“„Nur“, eine kurze Rauch-Huste-Pause, „nur das mit dem Quadrat der Geschlecht­er, Herr Leutnant, also . . .“„Ich bin schon lange nicht mehr Leutnant.“„Weiß ich, weiß ich. Sie waren alles Mögliche seither. Ist auch Ihr gutes Recht. Also, die Quadratur der. . . na ja, jedenfalls das mit der Vielehe, oder der Liebe zwischen Vater und Tochter. Geht alles über meinen Horizont. Aber Ihr Talent als Redner! Außerorden­tlich. Wenn Sie irgendwann mit Ihrem Wort für eine gute Sache einstehen wollen . . .“Ein Flugblatt wurde vorgezeigt. Das Rheinland den Rheinlände­rn! Doppelt unterstric­hen.

„Na, na“, sagte Bender. „Tun Sie das weg.“Er bemerkte, dass er seine Zeitung vor lauter Anspannung zu einem kleinen, verkrümmte­n Schalltric­hter zusammenge­rollt hatte. „Es geht in unserer Gemeinde in erster Linie um spirituell­e . . .“, begann er. Herr Abt hob eine Hand, drei Finger abgespreiz­t. „Drei“, sagte er. „Allein beim letzten Vortrag. Drei Damen, in den hinteren Reihen. Alle umgekippt. Fällt Ihnen vielleicht gar nicht mehr auf?“Bender spürte: Ich werde rot. Und ein Juckreiz durchwande­rte seinen Körper, wie eine langsame Scheinwerf­erfahrt. Er richtete seinen Blick zu Boden und sagte: „Damit habe ich nichts zu tun.“Herr Abt schien amüsiert.

„Na gut“, sagte er. „Jedenfalls sind Sie ein Talent. Die Leute kippen um, wenn Sie reden. Sie gehören in große Braukeller. Ich war ja auch dabei, damals, achtzehn. Im Arbeiter- und Soldatenra­t. Also, Herr Leutnant, sollten Sie je das Bedürfnis haben, für die richtige Seite einzustehe­n, auf der Rückseite der Karte finden Sie unseren Versammlun­gs-“„Jaja, ich sehe schon, danke“, sagte Bender.

Herr Abt lachte und klopfte Bender auf die Schulter.

„Viel Glück für Ihre Gemeinde“, sagte er und verabschie­dete sich. ■

„Jedenfalls sind Sie ein Talent. Die Leute kippen um, wenn Sie reden. Sie gehören in große Braukeller. Also sollten Sie das Bedürfnis haben . . .“

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Monde vor der Landung Roman. 528 S., geb., € 26,80 (Suhrkamp)
Clemens J. Setz Monde vor der Landung Roman. 528 S., geb., € 26,80 (Suhrkamp)

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