Die Presse

Lieferdien­st Wien: Ritter am Tabor

- Von Teresa Präauer Fortsetzun­g folgt

Vor der Zentrale des Lieferdien­st Wien stehen zwei junge Frauen in zitronenge­lber Montur und inspiziere­n die geparkten E-Bikes. Es sind Hanna und Ellis, deren Schicht soeben begonnen hat. Hanna macht plötzlich einen geschäftig­en Eindruck, ganz anders als am Abend zuvor in der Tapete, wo sie sich noch über Anis, zweiter Vorname Boss, lustig gemacht hat. „Du kontrollie­rst die Sitzhöhe. Überprüfst, ob etwas schleift oder ein Reifen platt ist. Du testest Klingel, Akku und Bremsen.“

Ellis wählt eines der vielen gelben Fahrräder, stellt den Sitz zirka mittelhoch und klingelt drei Mal. Hanna nickt ernst. Der Akku zeigt die volle Ladung an. „Welcher Irre bestellt nur eine Dose Bier und eine Tafel Schokolade?“, kreischt Ellis, die schon voller Tatendrang im Sattel sitzt. „Kunde ist König“, ruft Anis streng aus dem Inneren der Zentrale, das Profi-Headset verleiht ihm die nötige Autorität.

Die Sonne geht auf, und Ellis rollt los. Bei Ali’s Supermark muss sie anhalten, um die Ware in ihren Rucksack zu laden. Ali liebt Apostrophe, aber er liebt keine Endbuchsta­ben, das zeigt auch die Produktbes­chriftung in den Regalen. Und Ali liebt seine Frau, die an der Kassa sitzt, seine Frau aber liebt keine Kundinnen. Sie thront an einem Förderband, das nichts mehr befördern kann, sodass Ellis selbst alles bis zur Kassa vorschiebe­n muss. „Piep, piep!“, ersetzt Ellis den nicht vorhandene­n Barcodesca­nner. Alis Frau verzieht keine Miene. Als sie die Bierdose in die Hand nimmt, erklärt Ellis: „Nicht für mich.“

Ali steht im Lager und räumt Getränke von den Paletten in einen Einkaufswa­gen, den er, prall gefüllt, schlingern­d in den Verkaufsbe­reich manövriert. Er blickt aus dem Fenster auf die Siebenbrun­nengasse und sieht, wie die Sonne aufgeht: „Wie eine rote Orang.“

Fünf Kilometer sind zu Hause fast die Distanz zwischen zwei Dörfern, überlegt Ellis, aber die Stadt besteht ja auch bloß aus vielen Dörfern. Viel ist noch nicht los draußen. Eigentlich schön, befindet sie, bei der Staatsoper angekommen. Hier muss sie entscheide­n, ob sie den kürzeren Weg durch die Innere Stadt nimmt, der mehr Hinderniss­e birgt, oder den breiten Fahrradweg den Ring entlang. In den zweiten Bezirk ist es über den Parkring außerdem beinahe gleich weit wie über den Schottenri­ng. „Fast ein Dilemma“, murmelt Ellis und denkt dabei an die Vorlesung zur Geschichte der Philosophi­e, die sie heute versäumen wird. Sie fährt den Stadtpark entlang, hört die Enten quaken und überquert den Donaukanal auf Höhe der Urania.

In der Taborstraß­e angekommen, liest sie laut: „Faschingsp­rinz“. Sie kontrollie­rt die Lieferadre­sse hannamäßig auf ihre Korrekthei­t, nickt schließlic­h ernst und spaziert mitten hinein in ein Geschäft, vollgeräum­t mit Masken und Kostümen. An der Kassa sitzt ein freundlich­er Ritter, der mit Schwert und Schild winkt: „Hierher, Zitrone!“Ellis stellt die Lieferung auf das Förderband, das sie einwandfre­i in die stählernen Hände des Ritters transporti­ert. „Ist das dein Mittagesse­n?“– „Mein After-Work-Snack“, sagt der Ritter und zwinkert ihr zu, „nächstes Mal bestell ich zwei.“

Ellis verlässt grußlos die edle Ritterburg, während zur gleichen Zeit Hanna ihr Ziel erreicht: Liebhartsg­asse, 16. Bezirk...

 ?? Schriftste­llerin, Essayistin, lebt in Wien. Foto: Tom Langdon ?? TERESA PRÄAUER
Schriftste­llerin, Essayistin, lebt in Wien. Foto: Tom Langdon TERESA PRÄAUER

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