Kalter Balkanwind in Saloniki
Expedition Europa: Ich besuchte zwei historische Zentren des sephardischen Judentums. Anderswo zwängt sich der Reporter durch die Tür – bei einer ständig bedrohten Minderheit ist das ausgeschlossen.
Von Meldungen aufgestachelt, die schier unglaubliche Äußerungen von Antisemitismus in der heutigen EU behandelten, suchte ich zwei historische Zentren des sephardischen Judentums auf: Lissabon und Saloniki.
Nach Saloniki kam ich vorigen Winter. Eine Studie der „Action and Protection League“hatte bei einem Sample von 16.000 Befragten herausgefunden, dass unter den 16 untersuchten europäischen Ländern nicht die erwarteten Verdächtigen Ungarn, Slowakei und Polen den Rekord in Judenfeindlichkeit brachen, sondern – Griechenland. So glaubten in Hellas 58 Prozent an ein „geheimes jüdisches Netzwerk, das politische und wirtschaftliche Angelegenheiten in der Welt beeinflusst“.
Das osmanisch regierte Saloniki war nach der Vertreibung der Juden 1492 aus Spanien und 1496 aus Portugal zu einem sephardischen Jerusalem erblüht, mit einer jüdischen Bevölkerung von bis zu 100.000 und eigenen täglich erscheinenden Zeitungen wie „Le Progrès de Salonique“. 96 Prozent der zuletzt 48.974 griechischen Juden wurden in KZ ermordet, die meisten in Auschwitz, die meisten vergast. Heute existiert nur eine kleine Gemeinde, Pfizer-CEO Albert Bourla ist ihr bekanntester Abkömmling.
Ein kalter Balkanwind blies durch Neubauschluchten, mein Flehen um ein Gespräch mit Saloniker Sepharden über den griechischen Antisemitismus war unerhört geblieben. Anderswo zwängt sich der Reporter einfach durch die Tür, bei einer andauernd bedrohten Minderheit ist das ausgeschlossen. Ich ging stattdessen ins Jüdische Museum Saloniki. Nach einem Tête-a`Tête mit dem Security-Mann in der Sicherheitsschleuse erfuhr ich über das sephardische Saloniki: Es gab eine Gilde hauptberuflicher Trauergäste, Massen jüdischen Proletariats, obdachlose Massen nach dem Brand von 1917. Im Saal mit den Namen der Ermordeten war Kulturgut der Täter ausgestellt, etwa eine Kiste mit „Poesie aus Schlesien: Nach dem Abort / Vor dem Essen / Hände waschen / nicht vergessen“. Ich sah Fotos von Mädchen in weißen Rüschenkleidchen und von Buben in weißen Hemden. Von 10.000 jüdischen Kindern, stand darunter, hatten 58 überlebt.
Im Shop stieß ich auf den vermutlich letzten längeren Text, der in Saloniki auf Judäo-Spanisch
verfasst worden war: „Rapporto sovre la Communita Djudia de Thessaloniki 1870–1940.“Autor war Daout Levy, ein 80-jähriger Würdenträger aus der Verlegerfamilie des „Journal de Salonique“. Die Judenfeindlichkeit der in Saloniki gestrandeten Kleinasien-Griechen verschwieg er. Unklar ist, für wen Levy sechs Monate an seinem historischen Abriss schrieb. Für die deutschen Besatzer? Strich er für sie die schlechte Finanzsituation der Gemeinde hervor? Das war umsonst, der Rapporto fand wohl keinen einzigen Leser, Levy überlebte Auschwitz nicht.
Nach Lissabon kam ich diesen Winter, da eine nordspanische Regionalzeitung berichtet hatte: „Jüdische Community im Krieg gegen Portugal“, „sie prangern ein antisemitisches Komplott an“. Hintergrund war das Sondergesetz von 2015, mit dem alle Personen, die über mindestens einen Großelternteil von 1492 bis 1821 vertriebenen Sepharden abstammten, Anspruch auf einen portugiesischen Pass erhielten. So wurde Roman Abramowitsch 2021 zum reichsten Portugiesen, und so wurde 2022 der Oberrabbiner von Porto – der Abramowitschs Sephardentum beglaubigt hatte – verhaftet. Nach diesem Skandal stutzte die Alleinregierung der sozialistischen SP das Sondergesetz zusammen, seit September müssen zusätzlich die Erbschaft eines portugiesischen Grundstücks oder regelmäßige Besuche Portugals nachgewiesen werden.
Insbesondere die Israelitische Gemeinde Porto rannte dagegen Sturm. Sie prangerte Aussagen von PS-Politikern als antisemitisch an, Constança Urbano de Sousa etwa habe „die exponentielle Vermehrung der Sephardim mit dem Coronavirus verglichen“. Nach dem Zitat gefragt, mailte mir die ExMinisterin ein galliges Dementi. Auch die Sephardim von Porto antworteten nur elektronisch: „Wir können sephardischen Juden nicht raten, mit Ihnen zu sprechen, weil sie zur Zielscheibe werden könnten.“
Ich probierte es in Lissabon. Das Jüdische Museum existierte dort vorerst nur online, als jüdisches Viertel galt die mit sephardischen Siedlungsspuren nicht gerade verwöhnte Altstadt. Ich ging zum Ausgangspunkt des Pogroms von 1506, zur Kirche Sa˜ o Domingos. Das von den Erdbeben 1531 und 1755 und vom Brand 1959 angegriffene Gotteshaus mutete mit ihren ramponierten Säulen, ihren zerbrochenen Statuen und ihrem terracottahell leuchtenden Firmament wie eine Schauergrotte an.
Auf dem Kirchvorplatz, beim knorrigen Olivenbaum, stand ein kleines, aus zwei weißen Quadern gebildetes, 2011 vom katholischen Patriarchen gestiftetes Mahnmal. Eine junge Reiseführerin erzählte ihrer Gruppe: Die Inquisition herrschte in Portugal von 1531 bis 1821, Hunderttausende „Neuchristen“pflegten heimlich ihre alte Religion, einer von ihnen fand zwar die Lösung zur Überwindung der Pestepidemie, wurde aber vor den Stadttoren erschlagen und verbrannt. Dann habe man dem Mob „für jeden erschlagenen Juden hundert Tage Vergebung versprochen“. Ein Stück weiter das noch kleinere Mahnmal für die Tausenden Opfer des Pogroms, „1506–2006“, in der Form einer aufgeschnittenen Kugel. Eine Reisegruppe aus der deutschen Provinz ließ sich rastend nieder, eine Touristin lehnte sich an die Kugel. Das war vermutlich nicht böse gemeint, sie hatte den Davidstern am Mahnmal wohl nicht bemerkt.