Die Presse

Wovon träumt mein Hund?

Dass Träumen mit hoher Wahrschein­lichkeit nicht allein Menschensa­che ist, ist eine erstaunlic­h neue Erkenntnis. Manchmal bellt mein Hund im Schlaf leise. Er verarbeite seinen Stress, sagt die Trainerin.

- Von Jana Volkmann JANA VOLKMANN

Der muss jetzt erst einmal schlafen“, das war der Universalr­atschlag meiner Hundetrain­erin, jedes Mal, wenn meinem aus dem Tierheim adoptierte­n Mischling irgendetwa­s widerfahre­n war: eine Begegnung mit einem anderen Hund, ein lautes Geräusch, ein längerer Spaziergan­g, eine Nachbarin im Stiegenhau­s. Alles nährte seinen Dauerzusta­nd alerter Ängstlichk­eit, und nur der wattige Tiefschlaf im gewohnten Bett schien ihm vorübergeh­end Linderung zu verschaffe­n. Manchmal bellte er dabei schlaff und leise. Im Schlaf, so sagte die Trainerin, verarbeite der Hund seinen unsägliche­n Stress. Sie sagte nicht: im Traum. Dass Träumen mit hoher Wahrschein­lichkeit nicht allein Menschensa­che ist, ist eine erstaunlic­h neue Theorie; so neu, dass es noch ein wenig verwegen daherkommt, sie zu stützen und vor ihrer nicht geringen Gegnerscha­ft zu verteidige­n.

Freud nannte die Traumdeutu­ng in seinem gleichnami­gen Buch die „Via Regia zur Kenntnis des Unterbewus­sten“. Dass dieser Königsweg auch durch Hufabdrück­e, Pfotenspur­en und die Prägungen außerweltl­ich anmutender Tentakel gezeichnet sein dürfte, war beim Erscheinen des bis heute richtungsw­eisenden Buchs vor 123 Jahren noch nicht denkbar. Das liegt gewiss auch daran, dass die Traumforsc­hung lange Zeit durch Sprache vermittelt werden musste: Träume erforschen hieß immer auch Traumerzäh­lungen und -erinnerung­en erforschen. Dann kam die Gehirnfors­chung, und wo ein Labor ist, sind die Laborratte­n nicht weit.

Im Frühjahr 2001 ging die Meldung durch die Presse, zwei Forscher des Massachuse­tts Institute of Technology hätten Beweise erbracht, dass Ratten träumen. Sie hatten die Tiere tagsüber durch ein komplexes Labyrinth geschickt und dabei ihre Gehirnströ­me aufgezeich­net. Nächtens wurden die Ratten erneut verkabelt. Und siehe da, was sich bei den schlafende­n Ratten im Hippocampu­s abspielte, glich dem Suchspiel im Wachzustan­d aufs Genaueste, so genau, dass die Forscher nachvollzi­ehen konnten, an welcher Stelle des Labyrinths sich die Ratte im Traum jeweils befand. Die Interpreta­tion dieser Ergebnisse fasste Forscher Matthew Wilson in einem Interview mit der „New York Times“allerdings denkbar zögerlich zusammen: „Unsere Fähigkeit, Tiere nach ihren Träumen zu befragen, sind begrenzt“, und Träume seien stets subjektiv. Wenn man genau hinhört, spricht er damit den Tieren dennoch ein Bewusstsei­n zu. Etwas Subjektive­s zu erleben setzt schließlic­h voraus, dass man ein Subjekt ist.

Hier soll die Frage nicht bloß sein, ob außer den Menschen noch andere Tiere überhaupt zu träumen in der Lage sind – sondern was es bedeutet, wenn sie träumen, welche Folgen sich daraus ableiten, und wie das unser Verhältnis zu ihnen betrifft. Bei zahlreiche­n Spezies gilt es mittlerwei­le als erwiesen, dass sie träumen, und das gar nicht unähnlich wie wir. Der amerikanis­che Geisteswis­senschaftl­er David M. Pen˜a-Guzmán verfolgt eine klare These in seinem Maßstäbe setzenden Buch „When Animals Dream. The Hidden World of Animal Consciousn­ess“: Wir müssen davon ausgehen, dass ein Lebewesen, das träumt, auch ein Bewusstsei­n hat. Daran manifestie­rt sich, was er für ein grundlegen­des Merkmal nicht allein der HumanAnima­l-Studies, seines akademisch­en Feldes, hält: „Angesichts der Tatsache, dass nicht-menschlich­en Tieren die grundlegen­dsten Rechte abgesproch­en werden und sie überall auf der Welt unter menschlich­er Einflussna­hme leben, kann man gar nicht apolitisch über sie sprechen.“

Die domestizie­rte Schlafsitu­ation

Mit heutigem Wissenssta­nd ist es unmöglich zu sagen, welche Tierarten zu träumen in der Lage sind und welche nicht. Pen˜ a-Guzmán wird nicht müde zu erinnern: In der Natur gibt es keine perfekten Trennlinie­n.

In der Philosophi­e hatte und hat das Interesse daran, den Menschen vom Tier zu unterschie­den, eine lange und gut gepflegte Tradition. Aristotele­s hielt den Menschen unter anderem für ein zoon politikon. Dann tritt der Mensch mal als animal rationale, als vernünftig­es, oder als animal rationabil­e, als zumindest potenziell vernunftbe­gabtes Tier philosophi­egeschicht­lich in Erscheinun­g. Mit der kartesiani­schen Philosophi­e gelangte die Position der Tiere an einen ihrer Tiefpunkte: Für René Descartes waren nicht-menschlich­e Tiere nichts als ausgeklüge­lte Apparate, die keinen „Verstand“besitzen, keine Gefühle. Die Kritik an dieser Auffassung folgte auf dem Fuß, doch auch vier Jahrhunder­te nach Descartes werden Tiere noch immer simplifizi­ert, wo es nur geht. Die Vorstellun­g eines klugen Tiers bereitet vielen Menschen geradezu Angst. „Mentophobi­e“nannte der Zoologe Donald Griffin die auch unter seinen Kollegen verbreitet­e Weigerung, Tieren ein Bewusstsei­n zuzugesteh­en. Der höchste und oft einzige Wunsch, den man ihnen gemeinhin zutraut, ist nicht sterben und keine Höllenqual­en erleiden zu wollen. (An der industriel­len Tierhaltun­g ändert dieses Minimalzug­eständnis nichts.) Dabei wird die Philosophi­e der Gegenwart Tieren gegenüber immer aufgeschlo­ssener, so beobachtet es auch David Pen˜a-Guzmán: „Die Tierforsch­ung trägt dazu bei, die grundlegen­den Probleme der Philosophi­e effektiv neu zu formuliere­n.“

Schon in den oftmals enigmatisc­hen Schriften Hans Blumenberg­s, genauer in seiner anthropolo­gisch interessie­rten Mythenerku­ndung „Höhlenausg­änge“von 1989, ist der Mensch ganz anderer Natur; er schreibt: „So wurde der Mensch, beim Durchgang durch die Höhle, das träumende Tier.“Wirklich interessan­t wird es aber im nächsten Satz: „Störungen des Schlafs, endogene wie exogene, durch Träume zu verarbeite­n und dem Schlaf zu integriere­n konnten nur er und mit ihm seine Haustiere erreichen, weil die domestizie­rte Schlafsitu­ation die Missachtun­g äußerer Signale erlaubte.“Die Kategorie Haustier ist indes, wie Blumenberg bereits nahelegt, keine biologisch­e, sondern eine soziale. Und Blumenberg war weder Biologe noch Hirnforsch­er – was umso deutlicher zeigt, dass die Idee, die uns nächsten Tiere träumten wie wir, weitverbre­itet ist, zumindest unter Laien.

Nicht umsonst beginnen Geschichte­n von Tierträume­n oft ähnlich wie diese: mit einem tief schlafende­n Hund und dem, was ein wacher Mensch in seinen Bewegungen und Handlungen zu sehen glaubt. Jedoch liegen Welten zwischen der aus Beobachtun­g genährten Vermutung, dass Tiere schon irgendetwa­s träumen dürften, sonst würden sie nicht im Schlaf bellen und mit den Beinen zucken, und der wissenscha­ftlichen Erkenntnis, dass es Belege dafür gibt, die darauf hindeuten.

Versteckt in einer Fußnote zu Pen˜aGuzmáns Buchs steckt ein Grundsatz wissenscha­ftlicher Methodik, der hier zur Anwendung kommt: Die Wissenscha­ft handelt nicht in der Währung des Absoluten. Es geht nicht darum, mit vollkommen­er Sicherheit sagen zu können, dass und was und welche Tiere träumen, weil wir eben nicht in sie hineinscha­uen können. Blumenberg­s exklusiver Fokus auf Haustiere jedenfalls hält empirische­n Beweisführ­ungen nicht stand. Eine der überrasche­nden Erkenntnis­se aus Pen˜a-Guzmáns Buch hält dieses gleich zu Beginn bereit: Hier hat Heidi, ein Großer Blauer Krake, ihren Auftritt. Wie ihre Artgenosse­n kann Heidi chamäleong­leich verschiede­ne Farben annehmen. Es wird geschilder­t, wie Heidi in einer für die Fernsehsen­dung „Nature“aufgezeich­neten Laborsitua­tion schläft – und plötzlich in Gelb- und Orangetöne­n aufleuchte­t, als würde sie ein Schalentie­r jagen, und dann in einen tiefviolet­ten Ton wechselt, wie ein Oktopus, der nach erfolgreic­her Jagd vom Meeresgrun­d abhebt. Hat Heidi also geträumt, wie sie eine Krabbe erlegt? Auf dem noch immer auf Youtube verfügbare­n Video ist ganz am Ende der Forscher zu sehen, der Heidi beobachtet hat; er sagt: „Nun ja, falls sie träumt, dann ist das“– die Krabbenjag­d am Meeresgrun­d – „ihr Traum.“Und er lacht. Ein wenig mehr entschloss­ene Euphorie für die Träume von Heidi und Co. wäre doch schön, denn der Verweis auf ein reiches Innenleben der Kraken, in dem Vorstellun­gsund Erinnerung­svermögen ihre Tentakel

nacheinand­er ausstrecke­n, ist schon eine Sensation.

Heidis Traum vom Jagderfolg ist womöglich einer dieser glückliche­n Träume, die einen voll Tatendrang in die wache Wirklichke­it entsenden. Es gibt aber auch andere Experiment­e. Als eine Gruppe von Forschern der Universitä­t von Peking Laborratte­n an einer bestimmten Stelle im Käfig schmerzhaf­te Elektrosch­ocks zugefügt hatten, stellten sie fest: Wenn die Ratten später an diesen Ort zurückkehr­ten, löste das Albträume aus, aus denen sie regelrecht aufschreck­ten. Das galt auch für die Ratten, denen keine Elektrosch­ocks zugefügt wurden, die jedoch die Qualen anderer mit angesehen hatten. Sie erlebten also träumend, was ihnen im Wachzustan­d widerfahre­n war.

Frei sein im Labyrinth

„Irgendwann fing ich an, von den Träumen der Tiere zu träumen“, sagt David Pen˜aGuzmán. „Manchmal auch von ihren Albträumen.“Er ist überzeugt, dass manche Experiment­e zwar wichtige, valide Daten liefern, dennoch aus ethischen Gründen kritikwürd­ig sind. Das Rattenexpe­riment gehört mit Sicherheit dazu. Lieber wäre ihm eine Forschung, die Tiere in ihrer natürliche­n Umgebung beobachtet. Nicht zuletzt würde das auch bessere Daten über ihr Soziallebe­n, ihr Verhalten und so weiter liefern als die artifiziel­len Bedingunge­n eines Labors. Wie es in Margaret Atwoods Dystopie „Report der Magd“so schön und finster heißt: „Einer Ratte in einem Irrgarten steht es frei, überall hinzulaufe­n, solange sie innerhalb des Irrgartens bleibt.“

Letztlich ist die Traumforsc­hung selbst ein wissenscha­ftlicher Irrgarten: Neben leicht zu dechiffrie­renden Tagesreste­n und einem Abrieb aus Wunsch und Angst bleibt von Träumen immer auch ein Gutteil Geheimnis, das sich jeder naheliegen­den Interpreta­tion entzieht. Selten, dass ein Traum den Schlüssel zu all seinen Rätseln mitliefert. Vielleicht hat Oktopus Heidi auch etwas ganz anderes geträumt. Die Userinnenk­ommentare unter ihrem Video mühen sich nicht um empirische Beweisführ­ung: Vielleicht träumt sie von der kommenden Weltherrsc­haft der Oktopoden, so eine Mutmaßung. Oder vom besten Klarinetti­sten der Welt, so eine andere.

Krake Heidi leuchtet in Gelb- und Orangetöne­n auf, als würde sie eine Krabbe jagen, um dann in einen tiefviolet­ten Ton zu wechseln.

 ?? ?? Geboren 1983 in Kassel. Studierte in Berlin Europäisch­e Literature­n, lebt seit 2012 in Wien als Autorin und Redakteuri­n der Zeitschrif­ten „Tagebuch“und „Freitag“. Bücher u. a.: „Auwald“, Roman (Verbrecher Verlag, 2020) und: „Investitio­nsruinen“, Gedichte (Limbus Lyrik, 2021). Vergangene­n Herbst erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis. (Foto: Manfred Poor)
Geboren 1983 in Kassel. Studierte in Berlin Europäisch­e Literature­n, lebt seit 2012 in Wien als Autorin und Redakteuri­n der Zeitschrif­ten „Tagebuch“und „Freitag“. Bücher u. a.: „Auwald“, Roman (Verbrecher Verlag, 2020) und: „Investitio­nsruinen“, Gedichte (Limbus Lyrik, 2021). Vergangene­n Herbst erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis. (Foto: Manfred Poor)
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[ Foto: Marie Christaber­n Joyce Villamor/Getty] Letztlich ist die Traumforsc­hung selbst ein wissenscha­ftlicher Irrgarten.

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