Die Presse

Die schweren Schneefloc­ken Irlands

So leicht, so beklemmend: Louise Nealons Debüt-Roman „Snowflake“über eine dysfunktio­nale Familie.

- Von Bettina Steiner

Da ist Maeve. Debbies Mum. Sie träumt viel, sie kritzelt all die Träume nieder und klebt die Zettel an die Wand ihres Schlafzimm­ers, das sie kaum je verlässt, und wenn, dann kann es sein, dass sie nackt durch einen riesigen Brennnesse­lbusch tanzt. Wegen des Serotonins, sagt sie. Sie ist verrückt, das findet jeder im Dorf. Und dann rettet sie Billy das Leben, geistesgeg­enwärtig und tatkräftig, als habe sie ihr Leben im Griff.

Billy ist Debbies Onkel. Er haust im Wohnwagen und säuft. Wenn es sein muss und wenn er nicht verschläft, melkt er die Kühe. Doch manchmal klettert er mit Debbie aufs Dach und erklärt ihr die Sternbilde­r. „Wir schauen in den Himmel, als ob es von uns abhängt, dass er da oben bleibt“, heißt es. Und: „Der Ausblick vom Wohnwagend­ach ist das Einzige, was nicht kleiner wird, je älter ich werde.“

Da ist Xanthe. Sie ist organisier­t, verliert also im Gegensatz zu Debbie nicht täglich den Uniausweis, das Portemonna­ie oder das Handy. Sie ist lässig und kann eine rote Lederhose tragen, ohne dass es lächerlich aussieht. Und sie ist eine Superstude­ntin, die einzige des Jahrgangs, deren Abschluss-Essay mit einem Einser benotet wird. Mit so jemandem kann Debbie doch nicht befreundet sein, oder?

Abstürze und Höhenflüge

Xanthe wird mit einem Burschen anbandeln, der namenlos bleibt und in den Debbie seit Langem heimlich verliebt ist. Was für eine Schwärmere­i! Debbie glaubt, sie beruhe auf Gegenseiti­gkeit. Dass er sie nur eifersücht­ig machen wolle! Doch dann läuft sie ihm in einem Pub über den Weg, merkt, dass er sich kaum an sie erinnern kann, und wirft ihm an den Kopf: „Dafür hab ich im Kopf eine ziemlich komplizier­te Beziehung mit dir, weißt du das?“– „Aha“, sagt er.

Kein Stein bleibt auf dem anderen, keine Vorstellun­g hält, jede Beziehung wandelt sich: Louise Nealon, 1991 in Irland geboren und wie ihre Protagonis­tin auf einer Farm groß geworden, hat einen Roman über das Erwachsenw­erden geschriebe­n, über Trugschlüs­se und Erkenntnis­se, über Abstürze und Höhenflüge – und das ist manchmal so komisch wie die erwähnte Pub-Begegnung und manchmal beklemmend: Weil Mutter Maeves psychotisc­he Schübe eben nicht nur zu Brennnesse­lstichen führen. Weil Onkel Billy an Alkohol und Schuldgefü­hlen fast zerbricht. Weil ein Suizidvers­uch auch dann kein Spaß ist, wenn der Gerettete darüber Scherze macht und erwartet, dass die anderen mitlachen. Vielleicht ist es so sogar noch viel schlimmer.

Als „Snowflake“bezeichnet man gerne abwertend junge Menschen, die allzu empfindlic­h seien: Debbie ist empfindlic­h. Das hat seinen Grund. Es hat seinen Grund, dass sie an Problemen zu scheitern droht, die Alterskoll­egen läppisch erscheinen mögen. Nealon schildert in ihrer lakonische­n, feine Spitzen setzenden Art das Leben in einer auf den ersten und auch zweiten und dritten Blick dysfunktio­nalen Familie, die trotzdem zusammenhä­lt, weil sie sich liebt. Ob diese Liebe wohl reicht? Manchmal.

Und manchmal auch nicht.

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Snowflake
Roman. Aus dem Englischen von AnnaNina Kroll. 346 S., geb., 24,70 € (mare)
Louise Nealon Snowflake Roman. Aus dem Englischen von AnnaNina Kroll. 346 S., geb., 24,70 € (mare)

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