Gemma Krieg schauen
Anfang Juli 1916 wurde im Prater eine Kriegsausstellung eröffnet, es war die europaweit größte Schau zu diesem Thema. Das Leben an der Front sollte möglichst realitätsnah präsentiert werden.
Russlands mittlerweile knapp ein Jahr dauernder Krieg gegen die Ukraine hat unseren Alltag verändert und vielmehr noch – uns selbst. In den Medien studieren wir mit vertrauter Regelmäßigkeit die Lage an den Fronten, bemühen uns, „echte“von „falschen“Nachrichten zu unterscheiden. Fasziniert lauschen wir Militärexperten und vermeintlichen Geheimdienstinformationen, versuchen wir alte und neue Kriegstechniken zu verstehen. In Gesprächen wagen wir Zukunftsprognosen über den Fortund Ausgang des Krieges.
Militärisches Denken ist schleichend in unser Hirn und Herz gedrungen, bemächtigte sich unseres Lebens auf unaufhaltsame Weise – bei allen, auch bei jenen, die nie zuvor etwas damit zu tun hatten. Und wir erkennen, so wir ehrlich sind: All das stillt auf recht perfide Weise auch unser Unterhaltungsbedürfnis. Die mediale Gratwanderung zwischen sachlicher Informationsdienstleistung und kommerziellem Interesse ist schmal. Täglich „News from War“serviert zu bekommen macht etwas mit uns. Die Frage ist nur: Thrill oder Abstumpfung? Auf eigentümliche Weise fühlt man sich an die Jahre des Ersten Weltkriegs erinnert, als die Kriegsschauplätze weit entfernt von Wien, dennoch präsent waren. Inszeniert und zur Empathie empfohlen: als nachgebaute Schützengräben zum Zweck der Belehrung und Unterhaltung der Massen.
Anfang Juli 1916 war im Prater, genauer gesagt im Kaisergarten und auf der Galizinwiese, eine „Kriegsausstellung“eröffnet worden, die europaweit größte Schau zu diesem Thema. Verschiedene Arten von Waffen, erbeutete Trophäen und das Leben an der Front sollten möglichst realitätsnah präsentiert werden. Die ins Wanken geratene k. u. k. Monarchie ging daran, noch einmal ihren Überlegenheits- und Führungsanspruch zu demonstrieren, so die Historikerin Monika Sommer, die die Geschichte dieser spezifischen politischen und kulturellen Selbstdarstellung in einer kleinen Studie eingehend analysierte.
Unter Mitwirkung von 250 russischen Kriegsgefangenen waren bestehende Pavillons und Kulissen früherer Großausstellungen abgerissen worden. An ihrer Stelle entstand auf einer Fläche von 50.000 Quadratmetern und nach Plänen des renommierten Architekten Carl Witzmann eine inszenierte Ausstellungslandschaft mit betont affirmativer Wirkung. Ein riesiger, sich nach oben verjüngender Turm markierte den Haupteingang, von dem aus ein vorgegebener Rundweg ein umfassendes Bild über den Alltag der Soldaten vermitteln sollte. Krieg – möglichst hautnah erlebbar. Das Hinterland als Simulacrum der Front.
Vierzig Heller pro Person
Die feierliche Eröffnung nahm Erzherzog Franz Salvator vor, der in seiner Rede zum vollendeten Werk die „hohe ethische Bedeutung für alle Bevölkerungsschichten der Monarchie“betonte. Der Eintritt der täglich von neun Uhr vormittags bis elf Uhr abends geöffneten Schau war billig: vierzig Heller pro Person, für Militär und Kinder zwanzig Heller. Sämtliche Einnahmen gingen unverzüglich an die Kriegsfürsorge.
Die Presse lobte die moderne Gestaltung, die keineswegs „kitschig“, sondern im Gegenteil überaus „sachlich“sei. Als gelungenen Höhepunkt der Schau empfanden viele die Schützengräben, die in unterschiedlichen Ausprägungen in einem Areal zu sehen waren, das sprechenderweise „Im Felde“hieß. Hier schien die Neugier des Publikums besonders groß. War doch der „Schützengraben“seit Langem zum mythisch besetzten, hoch aufgeladenen Ort des Krieges geworden.
In diesen Stellungen zeigte sich, so meinte man, das wahre Gesicht des Krieges und übersah geflissentlich, dass auch dies – wie alles in der Ausstellung – wohl inszeniert und, wenn auch mit etwas Schauder versehen, zutiefst euphemistisch gestaltet war. Stellvertretend für viele gab ein Feuilletonist des „Fremden-Blattes“seine Eindrücke wieder: „Ueber einen schmalen, vom übrigen Gelände sorgfältig abgesteckten Weg geht’s in den Schützengraben. Das breite, gemächliche Grinsen eines schon grauen Landstürmers empfängt den Raucher mit dem stummen Hinweis auf eine Tafel: Rauchen im Schützengraben verboten. Darunter: Photographieren verboten. Der schmale Pfad senkt sich in die Erde, und man ist drinnen in der Illusion des Krieges. Seitlich vom Graben, der mit Pfählen und Birkenreis, der Wirklichkeit getreu, ausgekleidet ist, kommt man in die ,Appartements‘ unserer Frontkämpfer. Bei allem
Primitiven wohnt diesen Würfeln, die man aus der Erde gestochen, etwas Wohnliches, Gemütliches, Anheimelndes an. Im ,Burschenzimmer‘ eine bescheidene, rohgezimmerte, aber breite Bettstatt, auf der sich’s gut schlafen läßt. In den Schießscharten liegen Gewehre, wohl vom Regen blaß gespült und verrostet, aber es sind wirkliche Gewehre.“
Sichtlich war man um größtmögliche Authentizität bemüht, wozu auch originalgetreue Skizzen und Zeichnungen an den Wänden beitrugen, ebenso wie eine nachgebaute Latrine und ein Periskop. Dazwischen eine Warntafel: „Achtung Kopfschüsse!“Wie heute auch, wurde der Krieg rasch nach seinem Beginn musealisiert und historisiert, literarisch und journalistisch in seiner ganzen Bandbreite verarbeitet. Und natürlich bildmäßig in die Welt getragen. So fertigte der renommierte Wiener Hoffotograf Charles Scolik für den Veranstalter mehrere Aufnahmen an, die den Titel „Wiener Schützengraben“trugen und die verschiedenen Varianten und Ausbaustufen der Anlagen zeigten. Die Serie stellte damit gleichsam eine wiedererkennbare Marke dar, ein gut vermarktbares Produkt im großen Krieg, der zur Ware geworden war. Man fühlte gemeinsam und stillte gemeinsam Neugier und Unterhaltungsbedürfnis.
So ist es nicht verwunderlich, dass Schützengräben nicht nur in Wien, sondern auch in anderen Städten nachgebaut wurden, in Salzburg ebenso wie in Berlin. Die „geistige und moralische Ernährung des Volkes“und die „Konservierung der guten Stimmung“ließen sich mit ihnen, so ein Zeitgenosse euphorisch, besonders gut bewerkstelligen. Kritik daran oder ein zumindest ambivalentes Gefühl gegenüber der
Selbstverständlichkeit einer derartigen Inszenierung gab es selten. Lediglich die „Arbeiter-Zeitung“äußerte sich befremdlich über „ein Stillleben, das der Beschauer als einen Hohn auf die furchtbare Wahrheit empfindet“. Alfred Polgar meinte süffisant, dass damit „auch das Hinterland bißchen was hat von der großen Zeit“. Und dann war da natürlich Karl Kraus, der geradezu entsetzt war über den „ausgestellten Krieg“. In seiner „Fackel“proklamierte er: „Wie unnennbar ist das alles, wenn man sich nur vorstellt, daß es ausgestellt werden kann!“Über die sich verbreitende Unsitte, Kindern zur Firmung die Schützengräben des Praters zu zeigen, konnte er nur empört feststellen: „Ehedem hat der ,Göd‘ dem Firmling eine Uhr und dazu eine Watschen zum Geschenk gemacht. Jetzt, da die Uhr die große Zeit anzeigt, täte man besser, die Watschen dem ,Göd‘ zu überreichen, der die Absicht hat, das leichtempfängliche Kindergemüt zum Schützengraben zu führen.“
Unnennbar das alles, und furchtbar beschönigend. Denn klarerweise waren die Verhältnisse in den Schützengräben dramatisch brutaler, menschenunwürdiger – und der „Heimatfront“wahrscheinlich gar nicht zumutbar. Aus historischen Studien und Zeitzeugenberichten wissen wir, welch entsetzlichen Situationen die Soldaten in ihnen ausgesetzt waren.
Neben Kindern und Jugendlichen waren es nicht selten Frauen, die die Gelegenheit zur ausführlichen Inspektion derartiger Einrichtungen nutzten. Sie konnten hier erstmals jenen Ort kennenlernen, an dem ihre Männer ihr Leben riskierten. Wohl nicht zufällig waren es dann auch elegant gekleidete Bürgerfrauen, die in satirischen Bildern und Karikaturen als Schützengraben-Publikum abgebildet wurden. Die Besichtigung der Gräben war bis in die Nacht hinein möglich, oft von Militärmusik begleitet und von Scheinwerfern effektvoll beleuchtet. Kurzum: ein Spektakel für alle Sinne, das sich perfekt einfügte in ergänzende Theater- und Filmvorführungen und in die beliebten, groß angelegten „Marineschauspiele“.
Von Peter Payer
Festgefahrene Stellungen
Der Schützengraben begann sich aber nicht nur als Ort, sondern auch als Metapher zu verinnerlichen. Als Bild dafür, dass die Hoffnung auf einen kurzen, raschen Krieg eine Illusion sei. Festgefahrene Stellungen, die vor allem eines erforderten: Opfermut und Durchhaltewillen. Es ist wohl kein Zufall, dass es schon vor Ausstellungsbeginn eine viel gelesene Zeitschrift mit dem Titel „Der Schützengraben“gab, die in ihrer ersten, im August 1915 erschienenen Ausgabe über den namensgebenden Ort treffend bemerkte: „Allen denen, die ihn selbst erlebt haben, hat er sich gewiss unvergesslich in Herz und Sinn eingepraegt.“Nun wolle man, so die Intention der Redaktion, Erlebnisse aus der „Schützengrabenwelt“veröffentlichen, Heiteres, Nachdenkliches und Ernstes.
In vielfacher Form lebte der Schützengraben als Begriff weiter, selbst als der Krieg schon lange zu Ende war. Als Titel von Publikationen genauso wie im Film und in der Populärkultur. Einen ikonischen Ort der Moderne werden ihn später Kulturwissenschaftler nennen und seine Strahlkraft eingehend analysieren. Wie tief er sich in unserem Inneren festsetzte, wusste wohl niemand besser als Ernst Jandl, der dies im April 1957 in seinem berühmt gewordenen Gedicht „schtzngrmm“unnachahmlich formulierte.