Wenn aus Spaß Hass wird
Juli Zeh Urban
Auf den ersten Blick könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Theresa führt einen Hof mit zweihundert Kühen in Brandenburg, während Stefan stellvertretender Chefredakteur der renommierten Wochenzeitung „Der BOTE“in Hamburg ist. Normalerweise begegnen sich diese beiden Milieus nie, Theresa und Stefan verbindet aber eine gemeinsame Vergangenheit: Beide studierten Germanistik in Münster und lebten zusammen in einer Wohngemeinschaft. Damals schon unterhielten sie sich über Gott und die Welt und nahmen an Demos teil. Ein Paar waren sie zwar nicht, standen sich aber sehr nahe. Dann verschwand Theresa aus Stefans Leben, weil sie sich entschloss, den Hof ihres verstorbenen Vaters zu übernehmen. Jetzt, zwanzig Jahre später, begegnen sie sich zufällig, und obwohl ihr Treffen in einem heftigen Streit endet, wollen sie dort anknüpfen, wo sie vor Jahren aufgehört hatten. Sie schreiben sich E-Mails und WhatsApp-Nachrichten, in denen ihre konträren Lebenswelten aufeinanderprallen. Denn die Standpunkte der beiden sind so gegensätzlich wie eine sumpfige Brandenburger Flussaue und das feine Pflaster an der Hamburger Elbphilharmonie.
Durch den literarischen Kniff des Autorenduos Juli Zeh und Simon Urban, ihren beiden Hauptfiguren eine gemeinsame bildungsbürgerliche Vergangenheit zu geben, begegnet Theresa, die „Milchbäuerin“, Stefan, dem Exponenten der „urbanen Elite“, auf Augenhöhe. Obwohl Theresa Begriffe wie „White Supremacy“googeln muss, reflektiert sie klug und kundig über die intellektuelle Blase, in der sich Stefan eingerichtet hat, und macht sich darüber gern lustig. Typisch für eine Brandenburger Ökobäuerin ist sie damit sicherlich nicht. Theresas Kommentare zu den täglichen Schuld- und Bußeritualen und den Gender- und Klimawandelobsessionen in Stefans wokem Redaktionsalltag gehören zu den besten und lustigsten Passagen des Romans. Als er sich einmal als Rebell darstellt, der die Gesellschaft voranbringen muss, um schlussendlich als alter weißer Mann seine Schuldigkeit getan zu haben und abzutreten, kommentiert Theresa lakonisch: „Du bist kein Held. Du bist nicht mutig, nicht hart im Nehmen, du bist nicht einmal loyal. Du glaubst, dich durch Selbstverleugnung und Anbiederung beim Zeitgeist auf der moralisch richtigen Seite einkaufen zu können.“
Bestsellerautorin Juli Zeh hat ein gutes Gespür für politische Themen. 2009 erschien der Roman „Corpus Delicti“, der das Leben in einer Gesundheitsdiktatur beschreibt. Er wurde im Blick auf die Corona-Impfungen mal als seherisch gelobt, mal in die Nähe von Corona-Skeptikern gerückt. Dem Autorenduo geht es in „Zwischen Welten“um die wachsende Spaltung der Gesellschaft. Wie konnte sich die vormalige „Spaßkultur“innerhalb weniger Jahre in eine Hasskultur verwandeln? Sie machen dafür auch, aber keineswegs ausschließlich die modernen Medien verantwortlich. Korrespondieren Stefan und Theresa auf Social-Media-Kanälen, führt das zu Streit und Beleidigungen. In ihren E-Mails ist dagegen der Reflexionsabstand größer, und ein fruchtbarer Meinungsaustausch entsteht. Dabei sind die beiden keine Kunstfiguren, die klischeehaft die sattsam bekannten Correctness-Themen verhandeln. Denn beide verändern sich während ihrer E-Mail-Freundschaft.
Als zwei junge Klimaaktivisten eine Sonderausgabe der Zeitung verlegen dürfen, in der Redaktion keine andere Meinung gelten lassen und alle in Angst versetzen, wackelt plötzlich Stefans Glaube an den ewigen Fortschritt. Als er dann selber Opfer eines Shitstorms wird, wandelt er sich vom Weltverbesserer, der für die „kleinen“Probleme der Durchschnittsbevölkerung kein Verständnis hat, zu einem Zyniker, der weiß, dass er sich anpasst und mitspielt. Derweil melkt Theresa
um drei Uhr morgens ihre zweihundert Kühe und kämpft ums Überleben ihres Betriebs und auch ihrer Ehe, die unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen leidet. En passant lernt man bei Juli Zeh – sie lebt in Brandenburg, und von ihr dürften diese Passagen stammen –, mit welchen Widrigkeiten die Landwirte zu kämpfen haben, und wie sie langsam, aber sicher zwischen den Mühlsteinen der Agrarpolitik zerrieben werden. Die Landwirtschaft als Gegenwelt ist gut gewählt, denn in der woken Blase kennt man zwar Chiasamen und vegane Linsen-BulgurFrikadellen sowie den CO2-Abdruck der Avocado, aber von verfehlten EU-Subventionen, dem Land-Grabbing durch internationale Investoren und dem unfassbaren Papierkram zu jeder einzelnen Kuh haben sie keine Ahnung.
Auf dem Höhepunkt von Stefans Frust und Theresas Verzweiflung wollen beide ausbrechen. Kurz hat man den Eindruck, da findet sich ein Paar, das die Kraft hat, neu anzufangen. „Ab jetzt fragen wir uns, was schön ist, und nicht, was richtig ist. Vielleicht ist das ohnehin das Einzige, was man für die Welt tun kann: ein bisschen Schönheit hineinbringen.“Doch dann steigt Stefan wider Erwarten zum Chefredakteur auf, der „BOTE“wird zur „BOT*IN“, und er kann nicht loslassen, obwohl er weiß, dass er nur eine Marionette sein wird, ein wandelnder Kompromiss vielfältiger Interessen. Die enttäuschte Theresa wendet sich ab und radikalisiert sich in einer Art Gelbwestenbewegung, aus Verzweiflung, aus Angst, sich im Hamsterrad ewig drehen zu müssen. Ihr Enthusiasmus, doch der Regierung klarmachen zu können, dass es so nicht weitergeht mit der Landwirtschaft, schwindet auf ein Minimum, und als noch etwas Tragisches passiert, gibt es für sie kein Zurück mehr.
Am Schluss antwortet Theresa Stefan nicht mehr. Lassen die beiden Autoren den Versuch scheitern, dass es doch so etwas wie Verständigung zwischen den Welten geben könnte? Gibt es keinen gemeinsamen Nenner zwischen Ost und West, Frau und Mann, Stadt und Land, Elite und Marginalisierten? Da sich die gegensätzlichen Haltungen in der Gesellschaft in den Debatten zwischen Theresa und Stefan widerspiegeln, bedeutet dieser Kommunikationsabbruch, so könnte man dieses Romanende deuten, keine gute Prognose für die Zukunft. Die Spaltung dürfte erst mal weiter bleiben. Auch Juli Zeh erntete gleich nach Erscheinen des Buchs einen Shitstorm. Als ob sie es geahnt hätte.
Sind die Gegensätze in der Gesellschaft unüberwindbar geworden? und Simon haben einen heftig umstrittenen Briefroman geschrieben, in dem eine Bäuerin und ein Zeitungsredakteur versuchen, einander ihre Lebensrealitäten zu vermitteln.
Von Irina Kilimnik