Ich war nie ein Bolschewik
1939 entstandenes Drama „Die Schritte der Nemesis“enttarnt die nationalistische russische Politik und ist heute aktueller denn je.
Nikolaj Evreinov (1879–1953) war einer der revolutionären russischen Theatermacher und -theoretiker in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. 1924 emigrierte er nach Paris. „Die Schritte der Nemesis“entstanden 1939, wurden in den darauffolgenden Jahren bearbeitet und können als frühes Exemplar des dokumentarischen Theaters gelten, als Vorläufer von Heinar Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“und der „Ermittlung“von Peter Weiss. Sie nutzen, wenngleich erst im letzten von sechs Bildern – die anderen fünf spielen hinter den Kulissen der Justizinszenierung –, die dramaturgisch ergiebige Form der Gerichtsverhandlung und haben die berüchtigten Moskauer Schauprozesse der Jahre 1936 bis 1938 zum Inhalt. Das Stück wurde allerdings erst nach dem Tod des Autors in einem russischen Exilverlag veröffentlicht und im Juni 2022 in Braunschweig uraufgeführt.
Es treten unter anderem auf: Stalin, Bucharin, Radek, Vysˇinskij, Zinov’ev, Jagoda, eine prominente Männerrunde, unter ihnen als einzige Frauen zwei wahrscheinlich fiktive Verwandte Bucharins. Mit ihnen wird das Stück eingeleitet. Im zweiten Bild steht dann bereits Stalin im Zentrum. Als Bühnenfigur kennt man ihn, jenseits apologetischer, vor seinem Tod entstandener sowjetischer Dramen, aus dem mit seinem Namen betitelten Stück von Gaston Salvatore. In der Methode ähneln „Die Schritte der Nemesis“jenem Massenspektakel, mit dem Evreinov 1920 berühmt geworden war, dem „Sturm auf den Winterpalast“, wobei er sich jedoch erhebliche Freiheiten bei der Charakterisierung der historischen Figuren nimmt.
Der Begriff des „Dokumentarischen Dramas“oder gar des Reenactment ist, wie auch sonst, mit Vorsicht zu genießen. Dass Stalin den folgenden Satz gesprochen hat, mutet wenig wahrscheinlich an: „Die anderen können mir in höchstem Maße gestohlen bleiben, ich habe keine Angst, das ganze Zentralkomitee zu erschießen, wenn nötig.“Kurz vor dem Ende sagt der Geheimdienstfunktionär
Genrich Jagoda, der im Lauf der Schauprozesse zum Tode verurteilt wurde: „Ich gab mich für einen Bolschewiken aus, der ich nie war.“Könnten diese Worte nicht vom KGB-Mann Vladimir Putin stammen? Ist es nicht ein (gezieltes) Missverständnis, wenn man – als Bewunderer oder als Gegner der Sowjetunion – behauptet, diese hätte jemals etwas mit dem Kommunismus zu tun gehabt? Lässt sich die russische Politik, bis hin zum Angriffskrieg gegen die Ukraine, nicht vielmehr als seit dem Zarismus ungebrochen fortgesetzte nationalistische begreifen, in der sich lediglich manche als Bolschewiken ausgaben, die es nie waren?
Evreinovs „Schritte der Nemesis“versuchten, darauf eine Antwort zu geben. Vor immerhin mehr als einem halben Jahrhundert. Hätte man sein Drama und die Wirklichkeit, auf die es Bezug nimmt, zur Kenntnis genommen, wäre man vielleicht weniger empfänglich für die Selbstdarstellung eines Staatsmanns, der sich als Nazi-Bekämpfer ausgibt, wenn er ukrainische Zivilisten töten lässt, es aber nie war. Davon zeugen die Rechtsradikalen, die ihn umwerben und die er im Kreml bewirtet.
Mehr für die Rekonstruktion der Vergangenheit als für die Gegenwart interessieren sich die Slawistin Sylvia Sasse und der in Moskau geborene und in Zürich lehrende Historiker Gleb J. Albert, die in zwei Nachworten kenntnisreich über die Theatralität und die Interpretation der Schauprozesse reflektieren. Sie verdeutlichen, an wen sich diese außergewöhnliche Publikation gleichermaßen wendet: an die am Theater und an die an der Geschichte Russlands Interessierten.