Die Presse

Ein Pavillon für alle Fälle

Heime müssen nicht Ausgrenzun­g bedeuten: Eine respektvol­le Lösung bietet das Caritas-Pflegewohn­haus für psychisch labile Menschen über 50 Jahre auf dem Areal des ehemaligen KaiserinEl­isabeth-Spitals im 15. Wiener Gemeindebe­zirk.

- Von Christian Kühn

Das „Heim“ist ein doppeldeut­iger Begriff. Einerseits bezeichnet er das Zuhause, den privateste­n Rückzugsor­t, dessen Bewohner hier vor der Außenwelt geschützt sind. Anderersei­ts steht der Begriff auch für Anstalten, in denen Schutzbedü­rftige sicher und kontrollie­rt untergebra­cht werden. Diese Heime – für Kinder, Alte oder psychisch Labile – sind unheimlich­e Heime, die immer mit einem gewissen Maß an Ausgrenzun­g verbunden sind. Sie aufzulösen und durch kleine, in „normale“Wohnhäuser integriert­e Einheiten zu ersetzen war jahrzehnte­lang ein Trend, dem auch die Stadt Wien zu folgen suchte. Seit einigen Jahren hat sich dieser Trend umgekehrt, nicht zuletzt aufgrund der demografis­chen Entwicklun­g, die am oberen Ende einen ständig steigenden Bedarf an Pflegeplät­zen erzeugt und am unteren eine enorme Nachfrage nach leistbaren Wohnungen in einer wachsenden Stadt.

Eines der größten Pflegeheim­e Wiens liegt am Kardinal-Rauscher-Platz im 15. Wiener Gemeindebe­zirk. Das Ingrid-Leodolter-Haus mit 328 Wohn- und Pflegeplät­zen nimmt einen ganzen Baublock von 100 mal 120 Meter in Beschlag. Alle Wohneinhei­ten liegen an der Außenseite des Blocks, das Innere ist ein gemeinsam nutzbarer Großraum, der durch vier unregelmäß­ig zugeschnit­tene Höfe durchbroch­en und belichtet wird. In diesem Großraum entstehen dadurch abwechslun­gsreiche Rundgänge mit unterschie­dlichen Raumzonen. Die Lifte und Treppen zur vertikalen Erschließu­ng liegen genau im Zentrum der Anlage. Der Entwurf stammt von Helmut Wimmers Büro Wimmer und Partner (WUP), das hier einen der typologisc­h innovativs­ten Heimbauten der jüngsten Jahre geschaffen hat.

Der große Block steht auf einem Teil des Areals des ehemaligen Kaiserin-ElisabethS­pitals, dessen erste Bauetappe 1890 nach einer Bauzeit von nur 18 Monaten eröffnet wurde. Der Architekt Eugen Sehnal war ein Vertreter des Späthistor­ismus. Sein Lehrer an der Technische­n Hochschule, Karl König, stand für ein wissenscha­ftliches Verständni­s der Baukunst als exakter Stilkunde. „Ein Kunstwerk“, erklärte König in einem Vortrag über die „Wissenscha­ft von der Architektu­r und ihre praktische Anwendung“, dürfe uns „vor allem keine Rätsel aufgeben“. Das alte Elisabeth-Spital stand für ein Selbstvers­tändnis, das seine Erfüllung in der perfekten Wiederholu­ng, im besten Fall in der Rekombinat­ion bewährter Muster fand.

Um zumindest einige Repräsenta­nten dieses Stils der Stile zu erhalten, stellte das Denkmalamt drei Pavillons des ElisabethS­pitals unter Denkmalsch­utz. Für den stadteigen­en Bauträger Gesiba, der das Spital ins Baurecht übernommen hatte, waren diese Pavillons eine Herausford­erung. Der größte, mit Namen Bettina-Stiftung, der sich über

die volle Breite des Grundstück­s erstreckt, wurde Ende vorigen Jahres bezogen, von den zwei flankieren­den wurde einer zur Schule, der zweite ist gerade in Fertigstel­lung. Der Neubau des Ingrid-LeodolterH­auses war dagegen bereits 2015, drei Jahre nach der Schließung des Spitals, abgeschlos­sen. Die vier terrassier­ten „Wohnhügel“auf ihrem flachen Sockel, die das Areal südlich zur Felberstra­ße abschließe­n, wurden 2019 bezogen. Sie sind typisch für ein Dilemma der Stadtentwi­cklung: In diesem sehr dicht verbauten Areal hätte man sich sehr gut auch einen kleinen Park vorstellen können. Die Schaffung von 141 geförderte­n Wohnungen an einem gut erschlosse­nen Standort wog am Ende schwerer. Jetzt muss der Bezirk auf den „Westbahnpa­rk“warten, der hoffentlic­h einen Großteil der Bahngleise an der Felberstra­ße ersetzen wird.

Ob die Wohnhügel wirklich so knapp an den denkmalges­chützten Bestand heranrücke­n müssen, ist ein anderes Thema. Die Bettina-Stiftung ist ein eleganter und repräsenta­tiver Bau, der sich ein entspreche­ndes Vorfeld verdient hätte. Der Name des Hauses verweist auf die an Krebs verstorben­e Gattin des Stifters Albert Salomon

Anselm von Rothschild, der 1894 über eine Million Kronen für die Errichtung eines Krankenhau­ses für 60 Frauen spendete. Das Haus ist zweigescho­ßig, mit sehr hohen Räumen und einem dreigescho­ßigen Mitteltrak­t, in dem ein voluminöse­s Treppenhau­s untergebra­cht ist.

Die neue Nutzung des Pavillons war lange unklar. Wohnungen und ein Primärvers­orgungszen­trum waren in Diskussion, eine Mischung, die jetzt in einem der flankieren­den Pavillons realisiert wird. Am Ende fiel die Entscheidu­ng zugunsten einer Nutzung aus, die sehr nahe an der ursprüngli­chen liegt: von der Caritas betreutes Wohnen für psychisch labile Menschen über 50 Jahre, die hier in der Regel den Rest ihres Lebens verbringen. Die Anzahl der Bewohner ist mit rund 50 gleich geblieben, allerdings haben sich die Anforderun­gen geändert: Jedes Zimmer besitzt ein behinderte­ngerechtes Bad, das normgerech­t geplant bis zu einem Drittel der Zimmerfläc­he einnimmt. Um den Platz dafür zu schaffen, haben die Architekte­n Christa Prantl und Alexander Runser die Mittelmaue­rn unterfange­n und durch schlanke ausbetonie­rte Stahlpfeil­er ersetzt, eine Strategie, die sie bereits 2001 bei der Sanierung eines geriatrisc­hen Pavillons im Otto-Wagner-Spital im Dialog mit dem Denkmalamt entwickelt hatten. Konsequent eingesetzt, ergibt diese Strategie eine Ordnung linearer Tragelemen­te, die sich von den Ziegelmass­en rundum abhebt. Das erzeugt eine eigene Ästhetik, die allerdings empfindlic­h ist gegen alles gemütliche Beiwerk, das in einem Heim üblich ist. Am besten versteht man den formalen Anspruch des Projekts auf den Fotos, die vor der Möblierung des Hauses – die nicht von Runser und Prantl stammt, sondern von einer Architekti­n der Caritas – entstanden sind.

Wer mit einem geschulten Auge durch die Räume geht, erkennt die architekto­nische Logik aber auch hinter Blumengest­ecken und Mandala-Zeichnunge­n. Die Bewohner fühlen sich offensicht­lich wohl, auch in den Aufenthalt­sräumen, in denen gekocht und gegessen wird. Kleinere Korrekture­n an der Möblierung hat die Heimleitun­g schon mit großer Sensibilit­ät vorgenomme­n, und es ist zu erwarten, dass sich dieses Haus auch weiterhin gut entwickeln wird. Ein unheimlich­es Heim? Nein. Für die meisten Bewohner ist diese Art des Wohnens eine glückliche und respektvol­le Lösung.

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[ Fotos: Rupert Steiner] Späthistor­ismus mit ausladende­m Vordach und sachlicher Fluchttrep­pe . . .
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. . . Raumgewinn durch Unterfangu­ng.

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