Ein Pavillon für alle Fälle
Heime müssen nicht Ausgrenzung bedeuten: Eine respektvolle Lösung bietet das Caritas-Pflegewohnhaus für psychisch labile Menschen über 50 Jahre auf dem Areal des ehemaligen KaiserinElisabeth-Spitals im 15. Wiener Gemeindebezirk.
Das „Heim“ist ein doppeldeutiger Begriff. Einerseits bezeichnet er das Zuhause, den privatesten Rückzugsort, dessen Bewohner hier vor der Außenwelt geschützt sind. Andererseits steht der Begriff auch für Anstalten, in denen Schutzbedürftige sicher und kontrolliert untergebracht werden. Diese Heime – für Kinder, Alte oder psychisch Labile – sind unheimliche Heime, die immer mit einem gewissen Maß an Ausgrenzung verbunden sind. Sie aufzulösen und durch kleine, in „normale“Wohnhäuser integrierte Einheiten zu ersetzen war jahrzehntelang ein Trend, dem auch die Stadt Wien zu folgen suchte. Seit einigen Jahren hat sich dieser Trend umgekehrt, nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung, die am oberen Ende einen ständig steigenden Bedarf an Pflegeplätzen erzeugt und am unteren eine enorme Nachfrage nach leistbaren Wohnungen in einer wachsenden Stadt.
Eines der größten Pflegeheime Wiens liegt am Kardinal-Rauscher-Platz im 15. Wiener Gemeindebezirk. Das Ingrid-Leodolter-Haus mit 328 Wohn- und Pflegeplätzen nimmt einen ganzen Baublock von 100 mal 120 Meter in Beschlag. Alle Wohneinheiten liegen an der Außenseite des Blocks, das Innere ist ein gemeinsam nutzbarer Großraum, der durch vier unregelmäßig zugeschnittene Höfe durchbrochen und belichtet wird. In diesem Großraum entstehen dadurch abwechslungsreiche Rundgänge mit unterschiedlichen Raumzonen. Die Lifte und Treppen zur vertikalen Erschließung liegen genau im Zentrum der Anlage. Der Entwurf stammt von Helmut Wimmers Büro Wimmer und Partner (WUP), das hier einen der typologisch innovativsten Heimbauten der jüngsten Jahre geschaffen hat.
Der große Block steht auf einem Teil des Areals des ehemaligen Kaiserin-ElisabethSpitals, dessen erste Bauetappe 1890 nach einer Bauzeit von nur 18 Monaten eröffnet wurde. Der Architekt Eugen Sehnal war ein Vertreter des Späthistorismus. Sein Lehrer an der Technischen Hochschule, Karl König, stand für ein wissenschaftliches Verständnis der Baukunst als exakter Stilkunde. „Ein Kunstwerk“, erklärte König in einem Vortrag über die „Wissenschaft von der Architektur und ihre praktische Anwendung“, dürfe uns „vor allem keine Rätsel aufgeben“. Das alte Elisabeth-Spital stand für ein Selbstverständnis, das seine Erfüllung in der perfekten Wiederholung, im besten Fall in der Rekombination bewährter Muster fand.
Um zumindest einige Repräsentanten dieses Stils der Stile zu erhalten, stellte das Denkmalamt drei Pavillons des ElisabethSpitals unter Denkmalschutz. Für den stadteigenen Bauträger Gesiba, der das Spital ins Baurecht übernommen hatte, waren diese Pavillons eine Herausforderung. Der größte, mit Namen Bettina-Stiftung, der sich über
die volle Breite des Grundstücks erstreckt, wurde Ende vorigen Jahres bezogen, von den zwei flankierenden wurde einer zur Schule, der zweite ist gerade in Fertigstellung. Der Neubau des Ingrid-LeodolterHauses war dagegen bereits 2015, drei Jahre nach der Schließung des Spitals, abgeschlossen. Die vier terrassierten „Wohnhügel“auf ihrem flachen Sockel, die das Areal südlich zur Felberstraße abschließen, wurden 2019 bezogen. Sie sind typisch für ein Dilemma der Stadtentwicklung: In diesem sehr dicht verbauten Areal hätte man sich sehr gut auch einen kleinen Park vorstellen können. Die Schaffung von 141 geförderten Wohnungen an einem gut erschlossenen Standort wog am Ende schwerer. Jetzt muss der Bezirk auf den „Westbahnpark“warten, der hoffentlich einen Großteil der Bahngleise an der Felberstraße ersetzen wird.
Ob die Wohnhügel wirklich so knapp an den denkmalgeschützten Bestand heranrücken müssen, ist ein anderes Thema. Die Bettina-Stiftung ist ein eleganter und repräsentativer Bau, der sich ein entsprechendes Vorfeld verdient hätte. Der Name des Hauses verweist auf die an Krebs verstorbene Gattin des Stifters Albert Salomon
Anselm von Rothschild, der 1894 über eine Million Kronen für die Errichtung eines Krankenhauses für 60 Frauen spendete. Das Haus ist zweigeschoßig, mit sehr hohen Räumen und einem dreigeschoßigen Mitteltrakt, in dem ein voluminöses Treppenhaus untergebracht ist.
Die neue Nutzung des Pavillons war lange unklar. Wohnungen und ein Primärversorgungszentrum waren in Diskussion, eine Mischung, die jetzt in einem der flankierenden Pavillons realisiert wird. Am Ende fiel die Entscheidung zugunsten einer Nutzung aus, die sehr nahe an der ursprünglichen liegt: von der Caritas betreutes Wohnen für psychisch labile Menschen über 50 Jahre, die hier in der Regel den Rest ihres Lebens verbringen. Die Anzahl der Bewohner ist mit rund 50 gleich geblieben, allerdings haben sich die Anforderungen geändert: Jedes Zimmer besitzt ein behindertengerechtes Bad, das normgerecht geplant bis zu einem Drittel der Zimmerfläche einnimmt. Um den Platz dafür zu schaffen, haben die Architekten Christa Prantl und Alexander Runser die Mittelmauern unterfangen und durch schlanke ausbetonierte Stahlpfeiler ersetzt, eine Strategie, die sie bereits 2001 bei der Sanierung eines geriatrischen Pavillons im Otto-Wagner-Spital im Dialog mit dem Denkmalamt entwickelt hatten. Konsequent eingesetzt, ergibt diese Strategie eine Ordnung linearer Tragelemente, die sich von den Ziegelmassen rundum abhebt. Das erzeugt eine eigene Ästhetik, die allerdings empfindlich ist gegen alles gemütliche Beiwerk, das in einem Heim üblich ist. Am besten versteht man den formalen Anspruch des Projekts auf den Fotos, die vor der Möblierung des Hauses – die nicht von Runser und Prantl stammt, sondern von einer Architektin der Caritas – entstanden sind.
Wer mit einem geschulten Auge durch die Räume geht, erkennt die architektonische Logik aber auch hinter Blumengestecken und Mandala-Zeichnungen. Die Bewohner fühlen sich offensichtlich wohl, auch in den Aufenthaltsräumen, in denen gekocht und gegessen wird. Kleinere Korrekturen an der Möblierung hat die Heimleitung schon mit großer Sensibilität vorgenommen, und es ist zu erwarten, dass sich dieses Haus auch weiterhin gut entwickeln wird. Ein unheimliches Heim? Nein. Für die meisten Bewohner ist diese Art des Wohnens eine glückliche und respektvolle Lösung.