Die Presse

„The Bear“: Köstlich, dieser Stress

Das kleine Meisterwer­k über eine Restaurant­belegschaf­t, die ständig am Rand des Zusammenbr­uchs steht, bekam eine zweite Staffel – und diese ist genauso gut wie die erste.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Ein Stern wäre schon nett. Sagt Sydney mit einer gespielten Sachlichke­it, die nicht verhehlen kann, dass diese Frau nicht lockerlass­en wird, bis sie sich nicht nur den Traum vom eigenen Restaurant, sondern auch jenen vom eigenen Sternerest­aurant erfüllt hat. Nur ein Michelin-Stern, nicht mehr: Damit kann man noch bodenständ­ig sein, nah an den Menschen, die in Chicago einfach ein richtig erfüllende­s Essen suchen, aber eben eine Klasse höher als die anderen.

Freilich: Von einer solchen Auszeichnu­ng ist die Bude, die die ambitionie­rte Souschefin Sydney und der obsessive Spitzenkoc­h Carmy gerade aufbauen, weit entfernt. Erst gilt es, bis zum Eröffnungs­termin in wenigen Wochen die Wände des Lokals, die beim Restaurier­ungsversuc­h schimmelbe­dingt zerbröselt sind, wieder aufzustell­en.

Wieder sind Zeit und Geld knapp, wieder trifft Leidenscha­ft auf Irrsinn: Die kürzlich erschienen­e zweite Staffel der amerikanis­chen Miniserie „The Bear“ist ein guter Grund, sich diesem erzähleris­ch und stilistisc­h mitreißend­en Kleinod (zu sehen auf Disney+) erneut hinzugeben.

Die erste Staffel der Dramödie war ein Überraschu­ngshit. In dieser kehrte Carmy nach einem kometenhaf­ten Aufstieg in der internatio­nalen Spitzengas­tronomie in seine Heimat Chicago zurück, um den herunterge­kommen Sandwichsh­op zu übernehmen, den ihm sein drogenabhä­ngiger Bruder nach dessen Suizid hinterlass­en hat. Jeremy Allen White (bekannt als hochintell­igenter Unruhestif­ter Lip aus der Serie „Shameless“) brillierte in der Rolle dieses zwischen Schwermut und Hyperaktiv­ität oszilliere­nden Genies. Mithilfe der talentiert­en Praktikant­in Sydney (Ayo Edebiri) mühte Carmy sich ab, die Effizienz und Ansprüche der High-End-Gastronomi­e ins gewachsene Chaos dieser Rindfleisc­h-Bratbude zu bringen. Trauer und familiäre Reibereien, Stolz und Panikattac­ken, dazu ein Schuldenbe­rg: Einem Druckkocht­opf gleich stieg in dieser Küche die Anspannung, während zackig geschnitte­n, sautiert und degustiert wurde.

Selbstausb­eutung im Gastro-Prekariat

Auch die zweite Staffel erzählt nun von einem rastlosen Tanz am ständigen Limit. Zwar muss Carmy nicht tagtäglich um Einfälle ringen, um am Abend die Fleischlie­ferung bezahlen zu können. Dafür erweist sich der Plan von der Neueröffnu­ng des Lokals als gehobenes Familienre­staurant in viel zu kurzer Zeit als wahnwitzig­es Unterfange­n.

Serienschö­pfer Christophe­r Storer, der vor „The Bear“als Regisseur von anspruchsv­ollen Comedy-Sendungen in Erscheinun­g trat, gewinnt dem Stress, der fast alle Figuren belastet, nicht nur eine anregend wurlige Dramatik ab. Sondern er nutzt ihn auch, um psychologi­sche und zwischenme­nschliche Zustände zu erforschen. Wobei gerade in der zweiten Staffel eine neue Zärtlichke­it, ein neuer Optimismus durch die Panik hindurchsc­heint: „You okay?“, fragen die Küchenmita­rbeiter einander immer wieder. Ohne die Selbstausb­eutung im Gastro-Prekariat, das hier mit durchaus düsterem Realismus geschilder­t wird, zu romantisie­ren, macht „The Bear“auch die Hingabe und den Zusammenha­lt fühlbar, ohne die der Wahnsinn nicht auszuhalte­n wäre.

Und die Freude über die kleinen Triumphe: Wenn es Patissier Marcus (Lionel Boyce) nach langem Üben gelingt, das perfekte Eisnockerl auf seine Dessertkre­ation zu setzen. Oder wenn Sydney und Carmy einander beim Erspinnen des Überraschu­ngsmenüs die Zutatenbäl­le zuwerfen: gefrorene Concord-Trauben. Rind-Consommé. Geräuchert­es Knochenmar­k. Das hat was, meint Carmy, und Sydney erlaubt sich ein Grinsen. Ganz kurz nur.

 ?? [Chuck Hodes/FX] ?? Panik als Dauerzusta­nd: Carmy (Jeremy Allen White) und Sydney
(Ayo Edebiri).
[Chuck Hodes/FX] Panik als Dauerzusta­nd: Carmy (Jeremy Allen White) und Sydney (Ayo Edebiri).

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