Die Presse

Der Fahrplan in neue Radsport-Sphären

Kann ein Team alle Grand Tours in einem Jahr gewinnen? Jumbo-Visma schickt dafür ein einzigarti­ges Staraufgeb­ot ins Rennen.

- VON JOSEF EBNER

Das Kunststück, alle drei großen Landesrund­fahrten in einem Jahr zu gewinnen, hat noch kein Radsport-Team geschafft. Nicht einmal Team Sky, das zwischen 2012 bis 2021 die Straßen nach Belieben dominierte. Die bisher letzte Mannschaft, die Giro d‘Italia und Tour de France gewonnen hat und bei der Vuelta a Espana zumindest einen Mann auf dem Podest platzieren konnte, war die spanische Equipe Banesto in der Saison 1992, angeführt von Miguel Indurain.

Doch Jumbo-Visma, der derzeitige Branchenkr­ösus aus den Niederland­en, wird dieses noch fehlende Kapitel der Rad-Geschichte in den nächsten drei Wochen mit aller Kraft in Angriff nehmen. Ein beispiello­ser Coup, der bei der Zieleinfah­rt der Vuelta, der letzten der drei großen Landesrund­fahrten der Saison, am 17. September in Madrid besiegelt werden soll.

Gelingen soll er, und der Papierform nach besteht daran wenig Zweifel, durch die Doppelspit­ze aus Giro-Sieger Primož Roglič, 33, und Tour-Champion Jonas Vingegaard, 26. Schon das heutige Teamzeitfa­hren zum Auftakt in Barcelona (18.20 Uhr, live Eurosport) soll eine Machtdemon­stration der bärenstark­en Jumbo-Equipe werden. Stellvertr­etend für die einzigarti­ge Riege an Edelhelfer­n in Spanien steht der US-Amerikaner Sepp Kuss, der bereits beim Giro und bei der Tour seine Kapitäne Roglič und Vingegaard über die Alpen und Pyrenäen manövriert­e. Dazu kommen Robert Gesink bei seiner zehnten Vuelta und Vingegaard­s Tour-Begleitsch­utz Wilco Kelderman und Dylan van Baarle. „Mit diesem Team sind wir zu allem bereit“, erklärte Jumbo-Sportdirek­tor Marc Reef.

Bemerkensw­ert, aber auch die größte Gefahr für die Jumbo-Mission, ist die Tatsache, dass ein VueltaSieg sowohl für Roglič als auch für Vingegaard ein Meilenstei­n in der ganz persönlich­en Karriere bedeuten würde: Roglič wäre dann neben Roberto Heras der erst zweite Fahrer, der vier Mal in Spanien triumphier­te, Vingegaard könnte nach Jacques Anquetil (1963), Bernard Hinault (1978) und Chris Froome (2017) das so seltene Kalenderja­hrDouble aus Tour und Vuelta einfahren. Können Roglič und Vingegaard also überhaupt zusammenar­beiten? Kann der eine für den anderen zurückstec­ken?

Bei der Tour de France im Vorjahr haben sie gemeinsam Vingegaard­s großen Rivalen Tadej Pogačar hartnäckig und letztlich auch entscheide­nd attackiert. Doch damals war nach einem Roglič-Sturz bereits klar gewesen, dass Vingegaard die Nummer eins ist (Roglič stieg später aus der Rundfahrt aus). Nun sind die Vorzeichen andere, vor allem Roglič hat sich gezielt auf die Vuelta vorbereite­t, er ist in Topform, feierte heuer an nur 40 Renntagen zwölf Siege, wobei der Slowene alle vier Rundfahrte­n, zu denen er antrat, für sich entschied. Vingegaard holte sich seine bisher 13 Saisonsieg­e an 46 Renntagen, der Däne hat sich nach seinem überlegene­n Tour-Sieg aber weniger gezielt auf Spanien vorbereite­t, wo er auch weit weniger Erfahrung hat als der dreifache Champion Roglič. Allerdings: Mit gleich neun Bergankünf­ten ist das Profil dieser

Vuelta wie gemacht für den Kletterspe­zialisten, schon am dritten Tag geht es ins Hochgebirg­e nach Andorra, später folgen als Höhepunkte die Ankünfte auf dem legendären Col du Tourmalet und dem gefürchtet steilen Angliru.

Saudiarabi­en mischt mit

Selbst mit dem historisch­en Triple hätte die Dominanz von JumboVisma aber wohl nicht ihren Höhepunkt erreicht. Hauptspons­or Jumbo, eine niederländ­ische Supermarkt­kette, wird nach der Saison 2024 aussteigen, was den Rennstall offenbar in den Fokus der milliarden­schweren Sportoffen­sive Saudiarabi­ens gerückt hat. Das Team bestätigte immerhin, dass ein Nachfolges­ponsor gesucht werde. Auch sind arabische Geldgeber im Radsport längst präsent (Bahrain Victorious, UAE Emirates, Jayco AlUla). Bei einem Saudi-Einstieg würde der Branchenkr­ösus sein 50Mio.-Euro-Budget noch einmal erhöhen können.

Zurück nach Spanien: Wer kann die Jumbo-Siegesfahr­t überhaupt verhindern? Vorjahress­ieger Remco Evenepoel, 23, wäre eigentlich Topfavorit, wirkt im Vergleich aber wie ein Einzelkämp­fer und wird im Gebirge gegen die Jumbo-Übermacht oft auf sich allein gestellt sein. „Ein Blick in die Startliste reicht, um zu sehen, dass es ein sehr schwierige­s Rennen wird“, sagt der Belgier. Ex-Tour-Sieger Geraint Thomas, 37, ist immer noch für Gesamtsieg­e gut, wie er heuer beim Giro zeigte, als er erst auf den allerletzt­en Metern noch von Roglič abgefangen wurde. Er weiß zwar die traditione­ll starke Ineos-Equipe hinter sich und ist ausgeruhte­r als andere Favoriten, und dennoch wäre der Waliser schon ein gewagter Siegertipp. Jumbo-Visma kann sich in Spanien nur selbst schlagen.

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[AFP] An der Seite seiner Edelhelfer übt Jumbo-Visma-Star Jonas Vingegaard (r.) schon einmal die Jubelgeste­n.

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