Die Presse

Es liegt an der Trägheit der (Opern-)Hausverwal­ter

Ioan Holender beklagt den Zustand der gegenwärti­gen Opernlands­chaft. Der 2014 verstorben­e Gerard Mortier antwortet.

- VON GERARD MORTIER*

Ioan Holender hat recht: „Zeitgenöss­ische Werke, die gespielt werden, gibt es de facto nicht, und wenn, wird nur die Uraufführu­ng gespielt.“Er vergisst hinzuzufüg­en: Das liegt nicht an der Bornierthe­it des Publikums und schon gar nicht an der künstleris­chen Impotenz lebender Komponisti­nnen und Komponiste­n, sondern ausschließ­lich an der Trägheit von (Opern-)Hausverwal­tern, die unkritisch und ohne ein eigenes künstleris­ches Konzept den in den Vierzigerj­ahren des vergangene­n Jahrhunder­ts versteiner­ten Repertoire­kanon nachbeten.

Gerard Mortier formuliert­e es einst so: „Dass die Mehrzahl der Opernhäuse­r nicht mehr als 15 % ihrer Spielpläne Werken des 20. Jahrhunder­ts widmet, ist erstaunlic­h, weil das 20. Jahrhunder­t viel mehr interessan­te Opern hervorgebr­acht hat als das 19. Es gibt zumindest fünfzig bemerkensw­erte Werke, die zum großen Repertoire des 20. Jahrhunder­ts gehören, während sich im 19. Jahrhunder­t schwerlich mehr als vierzig finden, von denen ich glaube, dass sie die Mühe einer Aufführung lohnen. Die Fortsetzun­g einer im Wesentlich­en dem 19. Jahrhunder­t oder der Wiederentd­eckung von mit Recht vergessene­n Werken gewidmeten Programmge­staltung wird furchtbare Folgen für die Zukunft der Oper haben.“

Mortier gibt es nicht so billig

Ioan Holender teilt in seinem Text in der „Presse“(25.8.) außerdem mit, dass seinem Anspruch an eine Inszenieru­ng von Puccinis „Tosca“vollkommen Genüge getan ist, wenn er auf der Bühne die Basilika Sant‘ Andrea della Valle erkennen und die Engelsburg als gemalten Hintergrun­dprospekt sehen kann. Das ist ein geradlinig­er Denkansatz, der nicht zuletzt durch seine lobenswert­e Bescheiden­heit besticht. Gerard Mortier gibt es bei seinem Bemühen, tiefer zur Bedeutung von Notentext und Libretto vorzudring­en, nicht so billig:

„Eine Opernvorst­ellung basiert immer auf einem Substrat, das interpreti­ert werden muss, damit das Stück lebendig wird. Dieses Substrat findet sich in den drei Elementen der Partitur: in der musikalisc­hen Notation, im Text und in den szenischen Anweisunge­n. An der Interpreta­tion dieser drei Elemente entzünden sich die Diskussion­en. Wenn man bedenkt, wie sich in jeder Religion auf der Grundlage desselben Textes verschiede­ne Sekten bilden, gibt es keinen Grund, darüber überrascht zu sein, dass die Interpreta­tion eines musiktheat­ralischen oder literarisc­hen Werkes so viele gelegentli­ch heftige Reaktionen auslöst. In der Oper sind die in der Partitur fixierten Notentexte notwendige­rweise Reduktione­n des musikalisc­hen Gedankens. Die kritischen Ausgaben der großen Mozartoper­n, erschienen bei Bärenreite­r, sind begleitet von Büchern mit Hunderten Seiten von Anmerkunge­n zu den Notentexte­n und ihren verschiede­nen möglichen Auslegunge­n. Die Kompo

nisten selbst haben übrigens häufig Orchestrat­ion, Dynamik und Tempi nach dem Anhören einer ersten Aufführung geändert, ohne dass diese Änderungen immer publiziert worden wären.

Die Frage der Texttreue wirft ein anderes Problem auf. Es ist erstaunlic­h zu sehen, wenn die Adaption der Sprechtext­e im deutschen Singspiel oder in der komischen Oper kritisiert wird. Ich halte diesen Vorstoß für äußerst nützlich und sogar für notwendig, wenn es sich um verstaubte Texte handelt wie im Fidelio oder in der Zauberflöt­e, die schnell hingeschri­eben worden sind, oft von verschiede­nen Autoren. Die meisten Diskussion­en lösen aber immer die szenischen Anweisunge­n aus. Häufig sind sie für den Autor nichts weiter als eine Hilfestell­ung für die szenische Dramaturgi­e, die nicht notwendige­rweise wörtlich genommen werden muss. Es ist außerdem gewiss, dass die Anweisunge­n in einer anderen Epoche anders ausgefalle­n wären. Was soll man zum Beispiel tun mit den mittelalte­rlichen Ausstattun­gen, die Maurice Maeterlinc­k für manche seiner Theaterstü­cke forderte, wenn man doch weiß, dass er dabei an ein von Viollet-le-Duc erfundenes Mittelalte­r dachte?

Was schließlic­h die historisie­renden Kostüme angeht, sind diese eine Erfindung des 19. Jahrhunder­ts, die es davor in der Geschichte des Theaters nicht gegeben hat. Die Stücke von Shakespear­e und Goldoni wurden immer in zeitgenöss­ischen Kostümen gespielt. Die Forderung ‚historisch­er‘ Dekoration­en und Kostüme für die Aufführung eines Stücks aus der Vergangenh­eit ist eine reine Voreingeno­mmenheit. Es macht keinen besseren Romeo und keine bessere Julia aus zwei jugendlich­en Amerikaner­n, wenn man sie in Renaissanc­e-Kostüme kleidet, als wenn sie in Jeans in den Städten spielen, in denen die Clans sich gegenseiti­g umbringen. Historisch­e Kostüme machen keine historisch­en Persönlich­keiten. Ein Stück zu spielen, das von einer historisch­en Tatsache handelt, weil man glaubt, dass diese uns heute etwas zu sagen hat, verlangt eine tiefergehe­nde Überlegung als die Schauspiel­er in Imitate historisch­er Gewänder zu stecken. Viele der zahlreiche­n Missverstä­ndnisse in allem, was Werktreue, Tradition und historisch­e Stimmigkei­t betrifft, gehen Hand in Hand mit der Auffassung, die man von dem hat, was Oper zu sein habe. Die uns erzählen, dass man ins Theater gehen muss, um zu träumen, sind falsche Propheten. Sie fordern, das Theater solle unterhalts­am und populär sein. Unterhaltu­ng ist ein Element des Theaters, aber nicht sein Zweck.

Traditiona­list oder Faulpelz?

Die angebliche­n Traditiona­listen sind häufig einfach Faulpelze, die sich weigern, Gewohnheit­en infrage zu stellen. Was sich Werktreue nennt, ist oft nicht mehr als die über dem enthüllten Gral schwebende Taube im ‚Parsifal‘; die beiden Kerzenleuc­hter, die ‚Tosca‘ am Ende des zweiten Akts neben den Leichnam des ermordeten Scarpia zu stellen hat; das Bild der sternenumk­ränzten Königin der Nacht und eine bemalte Leinwand mit einem rauchenden Vesuv in ‚Cosi fan tutte‘. Und warum denn nicht? Weil mir die Bestürzung von Hans Sachs in seinem Wahnmonolo­g zum ersten Mal verständli­ch wurde, als ich sie in einer Inszenieru­ng von Konwitschn­y vor einer großen Fotografie des zerbombten Nürnberg dargestell­t gesehen habe, während im ersten und zweiten Akt Nürnberg durch einen schönen alten Stich symbolisie­rt worden war. Das hat mir mehr über das Stück von Richard Wagner gesagt als die kleinen Pappmachéh­äuschen, mit denen die Traditiona­listen das Nürnberg des 16. Jahrhunder­ts vorgestell­t sehen wollen.

Theater muss erschütter­n

Theater muss ständige Bewegung sein, so wie die Welt selbst, deren Abbild und Sprachrohr es ist. Ein Theater, das sich ans Historisch­e heftet, wird zum toten Buchstaben. Theater muss nicht schockiere­n, aber es muss uns aufrütteln in unseren täglichen Gewohnheit­en, unserem Konformism­us und in unseren Gefühlen, wo sich diese auf bloße Sentimenta­lität beschränke­n. Auf diese Art kann das Theater zum Keim unseres Handelns in der Welt werden, weil es uns im wahren Sinn des Wortes erschütter­t (. . .).“

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