Zusehen, wie sich Sprache formt
In einem der hinteren Höfe am Campus der Uni Wien befindet sich das Labor Babelfisch. Hier wird die Entwicklung der Sprache von den ersten Lebensmonaten an erforscht.
Betritt man ein wissenschaftliches Labor, wird einem nicht selten ein weißer Schutzkittel ausgehändigt. Statt um eine Extraschicht bereichert zu werden, heißt es indes im Labor Babelfisch: Bitte Straßenschuhe ausziehen. Der Teppichboden und die im Begrüßungsraum verstreuten Spielsachen tun das ihre – schon fühlt man sich wie zu Besuch bei Freundinnen.
Und so soll es auch sein. Denn in der von der Psycholinguistin Jutta Mueller geleiteten Einrichtung am Campus der Uni Wien im Alten AKH wird unter anderem Forschung mit Babys und Kleinkindern betrieben. Damit diese gelingt, müssen sich alle Beteiligten rundherum wohlfühlen. Dafür sorgen ein Wasch- und Wickelraum, eine Spielzeugecke ebenso wie ein bequemer Stillsessel. Nicht zu vergessen besagter Teppichboden, auf dem die Allerkleinsten bedenkenlos herumkrabbeln können.
Sprache hilft beim Denken
„Wir beschäftigen uns damit, wie sich Sprache von Geburt an entwickelt und wie sie mit anderen kognitiven Funktionen zusammenhängt und diese unterstützt“, erklärt Mueller. „Wir benutzen Sprache nicht nur, um mit anderen zu sprechen, sondern auch, um uns selbst Dinge klarzumachen, um sie vor uns selbst zu benennen und um sie uns zu merken.“
Der Zugang ist zwangsläufig ein interdisziplinärer. Sprachwissenschaft, Psychologie und Computerwissenschaft sind im Labor Babelfisch eng miteinander verknüpft. Deutlich wird das spätestens im Vorbereitungsraum. An der Wand hängen Elektrodenhauben in unterschiedlichster Größe, gegenüber befindet sich ein mit mehreren Monitoren ausgestatteter Arbeitsbereich, in dem die Messungen aufgezeichnet und überwacht werden.
Die Kleinen bei Laune halten
Am Tisch sitzt der Psychologe Tibor Tauzin. Der Postdoc-Forscher entwirft hier unter anderem EEG (Elektroenzephalographie)-Experimente, um mehr über die evolutionären und entwicklungsbedingten Ursprünge von Kommunikation zu erfahren. Die Arbeit mit Babys und Kindern ist eine besondere Herausforderung – und erfordert viel Routine. Das beginnt schon bei der Vorbereitung: Um die 64 Elektroden der EEG-Haube mit leitfähigem Gel zu füllen, braucht man in medizinischen Settings für einen Erwachsenen etwa eine halbe Stunde, bei Babys sollte der Spuk in zehn Minuten vorbei sein und die Haube mit den rund dreißig Elektroden sitzen.
„Die Kinder bestimmen, ob ein Experiment stattfindet und wann es endet“, betont Tauzin. „Für viele ist es aber ohnehin fast wie ein Spiel. Sie finden das Ganze aufregend. Aber klar, wenn sie sich schlecht fühlen, stoppen wir sofort.“Auch deswegen beanspruchen Studien mit Kindern viel Zeit. Es dauert oft Monate, um ein einzelnes Experiment zu beenden.
Babys erkennen Sprachmuster
Heute sitzt der vierjährige Marius im Messraum vor dem Bildschirm. Er trägt eine „Kinomütze“, wie Mueller sie dem Kleinen schmackhaft gemacht hat, und meistert das Experiment allein. Kleinere Kinder und Babys werden hingegen von einem Elternteil auf den Schoss genommen. Die erwachsene Begleitperson muss während der Messung Kopfhörer und eine abgedunkelte Brille tragen, damit sie ihr Kind nicht unbewusst beeinflusst (Kluger-Hans-Effekt). Mit der Elektrodenhaube wird nun Marius Gehirnaktivität gemessen, welche als schnelle Wellen auf dem Bildschirm sichtbar ist, während er ein animiertes Video schaut. Nach mehreren Berechnungsschritten lässt sich aus den gemessenen Daten ablesen, wenn sich die Aufmerksamkeit erhöht oder Lernprozesse stattfinden. Mueller: „Wir können Kleinkinder und Babys nicht fragen, was sie verstehen oder analysieren. Also nutzen wir diese Methode, um zu sehen, ob und wie das Gehirn auf bestimmte Reize reagiert.“Dadurch wisse man heute etwa, dass Kinder schon sehr früh bestimmte Sprachmuster durch bloßes Zuhören erwerben können. Ein solches Muster ist etwa der Hinweis auf eine Handlung in der Vergangenheit durch die Endsilbe „-te“bei Verben, zum Beispiel bei „tanzte“, „kochte“oder „sagte“.
In der Wissenschaft spricht man dabei von statistischem Lernen. Dessen Erforschung ist einer der Kernbereiche des Labors. Mueller nutzt dazu künstliche Grammatiken, in denen bestimmte Muster versteckt werden. „In mehreren rein akustischen Experiment haben wir Babys im Alter von drei bis zehn Monaten sinnlose Silben vorgespielt, wobei manche Silben immer mit anderen gemeinsam aufgetreten sind. Und tatsächlich konnten die Kleinen viele Muster erkennen. Wir haben in dieser Altersgruppe wirklich eine erstaunliche Lernfähigkeit festgestellt.“
Das Gefühl, das viele Eltern haben, dass ihr Baby sehr viel versteht, dürfte also nicht trügen. „Das erste Wort produzieren Kinder um den ersten Geburtstag, aber das erste konkrete Wort verstehen sie ab sechs Monaten“, weiß Mueller. „Es gibt sogar Evidenz, dass es bei häufigen Wörtern wie Arm oder Fuß noch ein bisschen früher ist.“
Ihr Labor nutzt auch Methoden wie Eyetracking, Computersimulationen und Nahinfrarot-Spektroskopie. In letzterem Fall tragen die Probandinnen und Probanden eine ähnliche „Haube“wie beim EEG. Gemessen werden jedoch nicht Gehirnströme, sondern mittels LEDs Durchblutungsänderungen, die verraten, in welchem Bereich es Aktivität gibt. Viele der animierten Videos für die Experimente gestalten die Babelfisch-Forschenden selbst, gezeigt werden etwa einzelne Körperteile, kurze Handlungen oder Münder, die lautlos Silben bilden.
Erwachsene unter der Haube
Die Fragen, die Mueller mit ihrem sechsköpfigen Team zu beantworten versucht, beziehen sich nicht nur auf das Deutsche. „Viele Sprachentwicklungsschritte sind nicht abhängig von der Sprache. Auch nicht davon, ob es sich um gesprochene oder Gebärdensprache handelt. Sprachentwicklung ist selbst über die unterschiedlichen Modalitäten hinweg sehr ähnlich.“
Im Labor Babelfisch wird übrigens nicht ausschließlich mit Kindern gearbeitet. „Wir wollen auch wissen, wie die Sprachverarbeitung bei Erwachsenen funktioniert, wie Sprache und Denken zusammenhängen“, so Mueller.
Endlich ist Marius fertig und darf sich seine Belohnung im Spielraum abholen. Während erwachsene Probandinnen und Probanden eine finanzielle Entschädigung erhalten, öffnet sich für Kinder ein Wandkasten, der mit Fotos von den kleinsten Studienteilnehmenden verziert ist. Dahinter? Bausteine, Bücher, Puzzles und Spiele. „Für mich ist das Belohnende an dieser Arbeit auch, zu sehen, wie gern Menschen zu uns kommen und sich für unsere Forschung interessieren“, meint die Laborleiterin.