Die Presse

Ohne Schwellenl­änder geht’s nicht

Weniger Fleisch oder kleinere Wohnung? Was ist gerechter? Elina Brutschin untersucht, wo welche Szenarien auf dem Weg zur Klimaneutr­alität gut oder schlecht bewertet werden.

- VON JULIANE FISCHER

Nicht nur Mann, Kind und Wanderschu­he, sondern auch ihr Fahrrad hat Elina Brutschin für ihre Premiere beim Europäisch­en Forum Alpbach eingepackt. Üblicherwe­ise tritt sie entweder beim Spinning oder von Wien Neubau bis zum Arbeitspla­tz am Internatio­nale Institut für Angewandte Systemanal­yse (IIASA) in Laxenburg, Niederöste­rreich, in die Pedale.

In Alpbach gestaltete sie das Seminar „Gerechter Wandel oder der Energie-Wettlauf zu Netto-Nullemissi­onen“mit. Debattiert wurde hier zum Beispiel anhand des laufenden Projekts „Just Trans 4 ALL“, das von IIASA-Kollegin Caroline Zimm geleitet wird, welche Klimaszena­rien als gerecht eingestuft werden – und welche nicht. Erste Befragunge­n zeigen: Den Fleischkon­sum überall auf der Welt zu reduzieren wird eher als ungerecht empfunden, als den Wohnraum zu verkleiner­n. Wie das mit dem politische­n System – und in der Fleischfra­ge wohl auch mit der kulinarisc­hen Identität eines Landes – zusammenhä­ngt, schaut sich die Politologi­n genauer an.

Von Kasachstan an den Bodensee

Definitiv fleischlas­tig ist die Küche in Kasachstan, wo Brutschin geboren ist. Als Zwölfjähri­ge wanderte sie mit ihrer Familie nach Tschechien aus, mit 16 kam sie nach Stuttgart, an den Bodensee zog sie, um Politikund Verwaltung­swissensch­aften zu studieren. „Der Studiengan­g an der Uni in Konstanz war besonders, da er einen starken Fokus auf Statistik und quantitati­ve Sozialwiss­enschaft legte – damals einzigarti­g in Deutschlan­d“, sagt sie. „Besonders der Energieber­eich interessie­rt mich, weil es interdiszi­plinär und naturwisse­nschaftlic­h ist und sozialwiss­enschaftli­che Aspekte beinhaltet.“

Jene Gruppe, die sich am IIASA damit befasst, befragt weltweit im EU-Projekt „Genie“in Zusammenar­beit mit der Aarhus University in Dänemark, wie verschiede­ne negative Emissionst­echnologie­n, die Treibhausg­ase aus der Atmosphäre entnehmen sollen, eingeschät­zt werden. Untersucht werden zehn verschiede­ne Methoden. Beispielsw­eise die Abscheidun­g und Speicherun­g von Kohlendiox­id aus der Luft (Daccs), Bioenergie mit Kohlendiox­idabscheid­ung und -einlagerun­g (Beccs) oder Wiederauff­orstung. Wo ist die Akzeptanz für welches Vorgehen höher und warum? Wo besteht das größte Risiko, dass zu wenig passiert?

„Die Verbreitun­g von neuen Technologi­en ist ein komplexer Prozess. Es braucht technologi­sche Kapazität, institutio­nelle Stabilität und öffentlich­e Akzeptanz“, weiß Brutschin. In Südamerika liege viel Potenzial. Absorbiert doch der Regenwald riesige Mengen an Kohlendiox­id aus der Atmosphäre. Allerdings gelten die meisten lateinamer­ikanischen Nationen als politisch instabil, und Klimapolit­ik hat dort keine hohe Priorität. Wenn die OECD-Länder, also Staaten mit hohem

Pro-Kopf-Einkommen, auf Daccs setzen, könnten die Schwellenl­änder länger bei den oft erst vor zehn Jahren erbauten Kohlekraft­werken bleiben – das hielt man lange Zeit für eine Chance für mehr Klimagerec­htigkeit. Brutschin und ihre Kollegen zeigen nun jedoch: Es geht nur gemeinsam. „Ohne die Beteiligun­g von Schwellenl­ändern, wird das 1,5-Grad-Ziel unerreichb­ar bleiben“, betont die Forscherin.

Der Zuspruch für Daccs ist in den OECDLänder­n vergleichs­weise gering. Gerade über neue Technologi­en wüssten die hier Befragten wenig, meint Brutschin und ergänzt, dass ihr deshalb die Wissensver­mittlung etwa in Alpbach ein Anliegen sei. „Mir ist es wichtig, neueste Erkenntnis­se zu teilen und so oft wie möglich zu hören, woher die Skepsis kommt.“Ihre Rolle sieht sie als ausgleiche­nd: „Ich versuche, die Brücke zwischen technische­n Modellen und den gesellscha­ftlichen Aspekten zu schlagen.“Denn Energiepol­itik sei von politische­n Interessen getrieben. „Klimapolit­ik hängt vom System und davon ab, welche Gruppe die Politikeri­nnen und Politiker an die Macht bringt.“In Demokratie­n hat die politische Führung entspreche­nd andere Anreize als in jenen Staaten, in denen das Militär oder die Industrie das Sagen hat. Die globale Klimapolit­ik bleibt also recht heterogen.

JUNGE FORSCHUNG

Ich versuche, die Brücke zwischen technische­n Modellen und den gesellscha­ftlichen Aspekten zu schlagen.

 ?? [Elisabeth Mandl] ?? Die Politikwis­senschaftl­erin Elina Brutschin debattiert­e heuer beim Forum Alpbach über mögliche Wege zu Netto-Nullemissi­onen.
[Elisabeth Mandl] Die Politikwis­senschaftl­erin Elina Brutschin debattiert­e heuer beim Forum Alpbach über mögliche Wege zu Netto-Nullemissi­onen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria