Fortsetzung von Seite I
auf mich los, nachdem ich ihn wegen einer rassistischen Äußerung zur Rede gestellt hatte.
Noch schlimmer als das waren allerdings die Reaktionen vieler meiner österreichischen Mitmenschen, wenn ich mein Anderssein selbst thematisierte, von Judenfeindschaft, der NS-Vergangenheit oder Fremdenfeindlichkeit sprach, wenn ich mich nicht brav und angepasst präsentierte, sondern aufmüpfig, provokant oder gar sarkastisch wurde und von meinen negativen Erfahrungen berichtete. Ob sich denn alle Juden ständig mit dem Thema Holocaust beschäftigen, wurde ich gefragt. Warum ich denn die alten Wunden immer wieder aufreißen wolle, warum ich nur das Negative sehe oder meine Herkunft und meine Biografie wie eine Uniform zur Schau stelle? Als ehemaliger Flüchtling und Migrant solle ich dankbar dafür sein, dass ich hier sein darf, und mein neues Heimatland nicht mit Schmutz bewerfen . . .
Der nostalgische Wunsch nach der Unsichtbarmachung des Anderen kann der erste Schritt auf dem Weg zu seiner emotionalen, kulturellen, schlimmstenfalls auch physischen Auslöschung sein. Der Antisemitismus ist sowohl weltweit als auch bei uns immer noch stark, ja er wird leider wieder stärker. Was aber früher vor allem Juden betraf, die sich nach 1945 optimalerweise still und unauffällig verhalten sollten, anstatt andere Menschen mit einer aufmüpfigen jüdischen Präsenz zu verstören oder ihnen gar ein schlechtes Gewissen zu bereiten, betrifft heute primär Homosexuelle und Transgender-Personen, Feministinnen, Geflüchtete, Muslime oder Klimaaktivistinnen. Sätze wie: „Ich habe nichts gegen Homosexuelle, aber müssen sie ihr Schwul- und Lesbischsein denn immer wieder zur Schau stellen und andere Menschen damit belästigen?“, höre und lese ich immer öfter.
Die angebliche Macht der Minderheit
Es gab Zeiten, da warf man Juden vor, sie würden christliche Kinder zu rituellen Zwecken töten, christliche Frauen schänden und die Gesellschaft „zersetzen“. Heute wirft man Schwulen und Lesben vor, sie würden Kinder missbrauchen oder zur Homosexualität „erziehen“. Rechtsradikale und Erzkonservative in Deutschland oder den USA sprechen von „frühkindlicher Sexualisierung“und laufen gegen Sexualaufklärung in den Schulen Sturm. Früher hat man Juden vorgeworfen, sie würden die Welt beherrschen. Heute werden Angehörige von Minderheiten in rechten Kreisen oft einer „Elite“zugerechnet, die angeblich großen Einfluss hat und Andersdenkende „canceln“würde.
Ob es sich nun um Geflüchtete, um Black Lives Matter, um meToo oder um LGBTQ handelt: Die Reaktionen auf neue Gegebenheiten folgen einem Muster – es ist nie ganz dasselbe, aber eine Variation zum selben Thema. Diktaturen wie Russland, China oder der Iran werden zunehmend restriktiver und reaktionärer. In westlichen Demokratien übernehmen die USA eine Vorreiterrolle. Warum die Informationsflut und die Präsenz jener, die bis vor Kurzem noch verfolgt wurden oder geschwiegen hatten, nicht stoppen, indem man Bibliotheken säubert, Schulpläne bereinigt und der Zivilgesellschaft die Förderungen entzieht? Solchen und ähnlichen Maßnahmen sollten Betroffene (weiterhin) mit Radikalität begegnen – mit differenzierter und konsequenter Aufklärung, mit Präsenz, Sichtbarkeit und Lautstärke. Den Nerv der Gesellschaft kann man nur dann treffen, wenn man ihr auf die Nerven geht. Das war früher auch schon so!