Die Presse

Fortsetzun­g von Seite I

- VLADIMIR VERTLIB

auf mich los, nachdem ich ihn wegen einer rassistisc­hen Äußerung zur Rede gestellt hatte.

Noch schlimmer als das waren allerdings die Reaktionen vieler meiner österreich­ischen Mitmensche­n, wenn ich mein Anderssein selbst thematisie­rte, von Judenfeind­schaft, der NS-Vergangenh­eit oder Fremdenfei­ndlichkeit sprach, wenn ich mich nicht brav und angepasst präsentier­te, sondern aufmüpfig, provokant oder gar sarkastisc­h wurde und von meinen negativen Erfahrunge­n berichtete. Ob sich denn alle Juden ständig mit dem Thema Holocaust beschäftig­en, wurde ich gefragt. Warum ich denn die alten Wunden immer wieder aufreißen wolle, warum ich nur das Negative sehe oder meine Herkunft und meine Biografie wie eine Uniform zur Schau stelle? Als ehemaliger Flüchtling und Migrant solle ich dankbar dafür sein, dass ich hier sein darf, und mein neues Heimatland nicht mit Schmutz bewerfen . . .

Der nostalgisc­he Wunsch nach der Unsichtbar­machung des Anderen kann der erste Schritt auf dem Weg zu seiner emotionale­n, kulturelle­n, schlimmste­nfalls auch physischen Auslöschun­g sein. Der Antisemiti­smus ist sowohl weltweit als auch bei uns immer noch stark, ja er wird leider wieder stärker. Was aber früher vor allem Juden betraf, die sich nach 1945 optimalerw­eise still und unauffälli­g verhalten sollten, anstatt andere Menschen mit einer aufmüpfige­n jüdischen Präsenz zu verstören oder ihnen gar ein schlechtes Gewissen zu bereiten, betrifft heute primär Homosexuel­le und Transgende­r-Personen, Feministin­nen, Geflüchtet­e, Muslime oder Klimaaktiv­istinnen. Sätze wie: „Ich habe nichts gegen Homosexuel­le, aber müssen sie ihr Schwul- und Lesbischse­in denn immer wieder zur Schau stellen und andere Menschen damit belästigen?“, höre und lese ich immer öfter.

Die angebliche Macht der Minderheit

Es gab Zeiten, da warf man Juden vor, sie würden christlich­e Kinder zu rituellen Zwecken töten, christlich­e Frauen schänden und die Gesellscha­ft „zersetzen“. Heute wirft man Schwulen und Lesben vor, sie würden Kinder missbrauch­en oder zur Homosexual­ität „erziehen“. Rechtsradi­kale und Erzkonserv­ative in Deutschlan­d oder den USA sprechen von „frühkindli­cher Sexualisie­rung“und laufen gegen Sexualaufk­lärung in den Schulen Sturm. Früher hat man Juden vorgeworfe­n, sie würden die Welt beherrsche­n. Heute werden Angehörige von Minderheit­en in rechten Kreisen oft einer „Elite“zugerechne­t, die angeblich großen Einfluss hat und Andersdenk­ende „canceln“würde.

Ob es sich nun um Geflüchtet­e, um Black Lives Matter, um meToo oder um LGBTQ handelt: Die Reaktionen auf neue Gegebenhei­ten folgen einem Muster – es ist nie ganz dasselbe, aber eine Variation zum selben Thema. Diktaturen wie Russland, China oder der Iran werden zunehmend restriktiv­er und reaktionär­er. In westlichen Demokratie­n übernehmen die USA eine Vorreiterr­olle. Warum die Informatio­nsflut und die Präsenz jener, die bis vor Kurzem noch verfolgt wurden oder geschwiege­n hatten, nicht stoppen, indem man Bibliothek­en säubert, Schulpläne bereinigt und der Zivilgesel­lschaft die Förderunge­n entzieht? Solchen und ähnlichen Maßnahmen sollten Betroffene (weiterhin) mit Radikalitä­t begegnen – mit differenzi­erter und konsequent­er Aufklärung, mit Präsenz, Sichtbarke­it und Lautstärke. Den Nerv der Gesellscha­ft kann man nur dann treffen, wenn man ihr auf die Nerven geht. Das war früher auch schon so!

 ?? Foto: Getty ?? Geboren 1966 in Leningrad, UdSSR. 1971 emigrierte seine Familie nach Israel, dann nach Italien, in die Niederland­e und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Vladimir Vertlib studierte Volkswirts­chaftslehr­e, lebt seit 1993 als Schriftste­ller in Salzburg und Wien. Sein jüngster Roman, „Zebra im Krieg“, ist 2022 bei Residenz erschienen.
Foto: Getty Geboren 1966 in Leningrad, UdSSR. 1971 emigrierte seine Familie nach Israel, dann nach Italien, in die Niederland­e und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Vladimir Vertlib studierte Volkswirts­chaftslehr­e, lebt seit 1993 als Schriftste­ller in Salzburg und Wien. Sein jüngster Roman, „Zebra im Krieg“, ist 2022 bei Residenz erschienen.

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