Wahnsinn! Verrückt! Weltfremd!
Mitten auf der Fahrbahn standen Geranien in riesigen Töpfen. Kunstrasen wurde ausgerollt, Sitzbänke wurden aufgestellt, Spiele und Picknicks waren erwünscht: In Amsterdam wurden kurzerhand vier Straßen mitten im Zentrum sechs Wochen lang für den Kfz-Verkehr gesperrt.
Grund für die Verspannungen zwischen meinen Schultern sei der motorisierte Verkehr, sagte kürzlich ein Physiotherapeut. Jedes Mal, wenn ein Auto an dir vorbeifährt, ziehst du die Schultern hoch, jedes Mal, wenn du die Straße überquerst, verspannt sich dein Nacken. Entspanntes Gehen zwischen Autos gibt es nicht, dafür sind wir nicht gemacht, und das Lenken eines Wagens führt zu noch schlimmeren Verspannungen. Wer mit Autos zusammenlebt, kommt um regelmäßige Massagen nicht umhin, beendete er ernst seine Lehrstunde. Ich war erleichtert, hatte ich doch bisher befürchtet, ich säße zu viel am Schreibtisch. Aber nein: Ich gehe zu oft zwischen fahrenden Autos.
Kurz darauf war ich in Amsterdam, wo kurzerhand vier Straßen mitten im Zentrum sechs Wochen lang für den Kfz-Verkehr gesperrt wurden. „De Knip“, der Schnitt, unterbrach eine Verkehrsachse, über die bis zu 1500 Autos pro Stunde in die Stadt hineinfahren und auch wieder hinaus. Die Weesperstraat, eine breite, in beide Richtungen zweispurige Straße, führt vom Südosten her zur Oper und zum Rathaus, zwischen Portugiesischer Synagoge und Jüdischem Museum durch, nun war sie von sechs bis 23 Uhr für Kfz gesperrt. Mitten auf der Fahrbahn blühte ein „Pocket-Park“, Geranien in riesigen Töpfen, diverse Sträucher, viel Efeu. Kunstrasen wurde ausgerollt, Sitzbänke wurden aufgestellt, Spiele und Picknicks waren erwünscht. Schranken, Betonblöcke und menschliche Kontrolleure garantierten, dass auch wirklich niemand durchfuhr (außer im Notfall Rettung oder Feuerwehr). Radfahren war natürlich erlaubt! Mit dem „Schnitt“wollte die
Gemeinde Amsterdam experimentell untersuchen, was wirklich geschieht, wenn Straßen für Autos zugemacht werden. Auch mit verringertem Kfz-Verkehr bliebe das Viertel gut erreichbar, zeigten Vorstudien. Aber wohin weicht er aus, wird er vielleicht sogar weniger? Geringere Belastung durch motorisierten Verkehr verbessert die Lebensqualität, wäre die Prämisse der Stadtverwaltung. Aber sehen die Bewohner:innen das auch so? Das langfristige Ziel, die Gegend ruhiger und grüner zu machen – noch mehr Pocket-Parks und zwar mit echtem Gras – entstand jedenfalls aus einer Initiative von Anrainer:innen.
Historisch interessant ist, dass in den 1960er-Jahren an dieser Stelle eine Autobahn gebaut werden sollte, durch die Altstadt bis zum Hauptbahnhof. Häuser wurden abgerissen, große Bodenflächen geglättet und asphaltiert. Zwischen der Portugiesischen Synagoge aus dem 17. Jahrhundert und der Mozes en Aäronkerk aus dem 19. Jahrhundert entstand so der bis heute verkehrsreiche Mr. Visserplein, in den die oben genannte Weesperstraat mündet. Nach enormen Protesten wurde die Idee der Autobahn verworfen. Aber die geraden mehrspurigen Straßen verlocken bis heute dazu, benutzt zu werden.
Wenn ich in Amsterdam bin, wohne ich an der Valkenburgerstraat, die ebenfalls in den Mr. Visserplein mündet, und die Zufahrt zum Tunnel bildet, der unter der Wasserfläche des Amsterdamer IJ zu den Autobahnen führt. In der Wohnung gibt es einen Balkon, auf dem es sich in der Abendsonne herrlich sitzen ließe – solange kein Gespräch erwünscht ist, der Verkehr überdröhnt alles. Sehe ich die Skizzen der Gemeinde Amsterdam, wie die Valkenburgerstraat verkehrsberuhigt werden könnte, bin ich begeistert: tulpenbewachsene Wiesen unter Bäumen, Fußgänger:innen, Radfahrer:innen, ab und zu ein einzelnes Auto. Für mich war der „Schnitt“ein absoluter Gewinn. Gelassen überquerte ich die Fahrbahn, meine Schultern blieben entspannt. An der Anne Frankstraat, wo unser Hauseingang ist, fuhren fast nur Fahrräder. Doch viele Nachbar:innen waren anderer Meinung. Wahnsinn! Verrückt! Weltfremdes Getue! Verkehrschaos! Auch Verwandte stöhnten, weil sie uns über Umwege besuchen mussten (sofern sie mit dem Auto anreisten). Ein Fotograf erklärte mir, er brauche unbedingt ein Auto, um seine schwere Ausrüstung zu den Hotels zu transportieren, in denen die Künstler:innen logieren, auf deren Porträtierung er sich spezialisiert hat. Auf meinen Einwand, eine befreundete Fotografin führe ihre Kameras, Objektive und Stative stets in einem Trolley mit, zu Fuß und per Straßenbahn, schüttelte er wortlos den Kopf.
Mit zwei Koffern und einem Plattenspieler in einer Schachtel war ich wenige Tage vorher zu Fuß vom Hauptbahnhof in die Wohnung an der Einfahrt des IJ-Tunnels gelangt. Das Einzige, was mich unterwegs aufhielt, waren Autos, die auf Gehsteigen parkten; an ihnen kam ich nur vorbei, wenn ich auf die Fahrbahn trat. Alles ging gut. Das Chaos blieb aus. Mein Nacken war entspannt wie nie. Beschwerden kamen von den Bewohner:innen der Straßen, in die der Verkehr sich verlagerte. Der Lärm! Der Gestank! Was normalerweise wir vor der Tür hatten, fuhr jetzt dort. Nach sechs Wochen war es zu Ende. Geranien und Sträucher wurden von der Fahrbahn geholt, wieder fahren 1500 Autos pro Stunde an unserem Balkon vorbei. Ich schließe die Tür, lege eine Platte auf: „Autobahn“von Kraftwerk von 1974 – was sonst?