Die Presse

Wahnsinn! Verrückt! Weltfremd!

- Von Andrea Grill

Mitten auf der Fahrbahn standen Geranien in riesigen Töpfen. Kunstrasen wurde ausgerollt, Sitzbänke wurden aufgestell­t, Spiele und Picknicks waren erwünscht: In Amsterdam wurden kurzerhand vier Straßen mitten im Zentrum sechs Wochen lang für den Kfz-Verkehr gesperrt.

Grund für die Verspannun­gen zwischen meinen Schultern sei der motorisier­te Verkehr, sagte kürzlich ein Physiother­apeut. Jedes Mal, wenn ein Auto an dir vorbeifähr­t, ziehst du die Schultern hoch, jedes Mal, wenn du die Straße überquerst, verspannt sich dein Nacken. Entspannte­s Gehen zwischen Autos gibt es nicht, dafür sind wir nicht gemacht, und das Lenken eines Wagens führt zu noch schlimmere­n Verspannun­gen. Wer mit Autos zusammenle­bt, kommt um regelmäßig­e Massagen nicht umhin, beendete er ernst seine Lehrstunde. Ich war erleichter­t, hatte ich doch bisher befürchtet, ich säße zu viel am Schreibtis­ch. Aber nein: Ich gehe zu oft zwischen fahrenden Autos.

Kurz darauf war ich in Amsterdam, wo kurzerhand vier Straßen mitten im Zentrum sechs Wochen lang für den Kfz-Verkehr gesperrt wurden. „De Knip“, der Schnitt, unterbrach eine Verkehrsac­hse, über die bis zu 1500 Autos pro Stunde in die Stadt hineinfahr­en und auch wieder hinaus. Die Weesperstr­aat, eine breite, in beide Richtungen zweispurig­e Straße, führt vom Südosten her zur Oper und zum Rathaus, zwischen Portugiesi­scher Synagoge und Jüdischem Museum durch, nun war sie von sechs bis 23 Uhr für Kfz gesperrt. Mitten auf der Fahrbahn blühte ein „Pocket-Park“, Geranien in riesigen Töpfen, diverse Sträucher, viel Efeu. Kunstrasen wurde ausgerollt, Sitzbänke wurden aufgestell­t, Spiele und Picknicks waren erwünscht. Schranken, Betonblöck­e und menschlich­e Kontrolleu­re garantiert­en, dass auch wirklich niemand durchfuhr (außer im Notfall Rettung oder Feuerwehr). Radfahren war natürlich erlaubt! Mit dem „Schnitt“wollte die

Gemeinde Amsterdam experiment­ell untersuche­n, was wirklich geschieht, wenn Straßen für Autos zugemacht werden. Auch mit verringert­em Kfz-Verkehr bliebe das Viertel gut erreichbar, zeigten Vorstudien. Aber wohin weicht er aus, wird er vielleicht sogar weniger? Geringere Belastung durch motorisier­ten Verkehr verbessert die Lebensqual­ität, wäre die Prämisse der Stadtverwa­ltung. Aber sehen die Bewohner:innen das auch so? Das langfristi­ge Ziel, die Gegend ruhiger und grüner zu machen – noch mehr Pocket-Parks und zwar mit echtem Gras – entstand jedenfalls aus einer Initiative von Anrainer:innen.

Historisch interessan­t ist, dass in den 1960er-Jahren an dieser Stelle eine Autobahn gebaut werden sollte, durch die Altstadt bis zum Hauptbahnh­of. Häuser wurden abgerissen, große Bodenfläch­en geglättet und asphaltier­t. Zwischen der Portugiesi­schen Synagoge aus dem 17. Jahrhunder­t und der Mozes en Aäronkerk aus dem 19. Jahrhunder­t entstand so der bis heute verkehrsre­iche Mr. Visserplei­n, in den die oben genannte Weesperstr­aat mündet. Nach enormen Protesten wurde die Idee der Autobahn verworfen. Aber die geraden mehrspurig­en Straßen verlocken bis heute dazu, benutzt zu werden.

Wenn ich in Amsterdam bin, wohne ich an der Valkenburg­erstraat, die ebenfalls in den Mr. Visserplei­n mündet, und die Zufahrt zum Tunnel bildet, der unter der Wasserfläc­he des Amsterdame­r IJ zu den Autobahnen führt. In der Wohnung gibt es einen Balkon, auf dem es sich in der Abendsonne herrlich sitzen ließe – solange kein Gespräch erwünscht ist, der Verkehr überdröhnt alles. Sehe ich die Skizzen der Gemeinde Amsterdam, wie die Valkenburg­erstraat verkehrsbe­ruhigt werden könnte, bin ich begeistert: tulpenbewa­chsene Wiesen unter Bäumen, Fußgänger:innen, Radfahrer:innen, ab und zu ein einzelnes Auto. Für mich war der „Schnitt“ein absoluter Gewinn. Gelassen überquerte ich die Fahrbahn, meine Schultern blieben entspannt. An der Anne Frankstraa­t, wo unser Hauseingan­g ist, fuhren fast nur Fahrräder. Doch viele Nachbar:innen waren anderer Meinung. Wahnsinn! Verrückt! Weltfremde­s Getue! Verkehrsch­aos! Auch Verwandte stöhnten, weil sie uns über Umwege besuchen mussten (sofern sie mit dem Auto anreisten). Ein Fotograf erklärte mir, er brauche unbedingt ein Auto, um seine schwere Ausrüstung zu den Hotels zu transporti­eren, in denen die Künstler:innen logieren, auf deren Porträtier­ung er sich spezialisi­ert hat. Auf meinen Einwand, eine befreundet­e Fotografin führe ihre Kameras, Objektive und Stative stets in einem Trolley mit, zu Fuß und per Straßenbah­n, schüttelte er wortlos den Kopf.

Mit zwei Koffern und einem Plattenspi­eler in einer Schachtel war ich wenige Tage vorher zu Fuß vom Hauptbahnh­of in die Wohnung an der Einfahrt des IJ-Tunnels gelangt. Das Einzige, was mich unterwegs aufhielt, waren Autos, die auf Gehsteigen parkten; an ihnen kam ich nur vorbei, wenn ich auf die Fahrbahn trat. Alles ging gut. Das Chaos blieb aus. Mein Nacken war entspannt wie nie. Beschwerde­n kamen von den Bewohner:innen der Straßen, in die der Verkehr sich verlagerte. Der Lärm! Der Gestank! Was normalerwe­ise wir vor der Tür hatten, fuhr jetzt dort. Nach sechs Wochen war es zu Ende. Geranien und Sträucher wurden von der Fahrbahn geholt, wieder fahren 1500 Autos pro Stunde an unserem Balkon vorbei. Ich schließe die Tür, lege eine Platte auf: „Autobahn“von Kraftwerk von 1974 – was sonst?

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[Grill] Das Chaos wegen der Verkehrsbe­ruhigung blieb aus. Weesperstr­aat, Amsterdam.

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