Die Presse

Kriegt er im Kofferraum genug Luft?

Auch mit 80 Jahren gehört Peter Henisch nicht zu jenen, die ihren Frieden mit der Welt gemacht haben. „Nichts als Himmel“erzählt von einem pensionier­ten Lehrer und einem Flüchtling.

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Von Thomas Rothschild

Da waren wir schon einmal, vor fast auf den Tag genau zehn Jahren, mit „Mortimer & Miss Molly“in der italienisc­hen Kleinstadt San Vito im Süden der Toskana. Der Ich-Erzähler Paul aus Peter Henischs jüngstem Roman, „Nichts als Himmel“, ehemaliger Lehrer für Mathematik und Musik und ein Liedermach­er wie der Autor so nebenbei auch, ist dorthin aufgebroch­en, um eine unbestimmt­e Zeit lang in der Wohnung von Freunden zu verbringen. Henisch, mittlerwei­le 80 Jahre alt und ein unverzicht­barer Festposten in der österreich­ischen Literatur, eigenwilli­g und keiner „Schule“zuzuordnen, kehrt gern zu Orten und Figuren seiner vorausgega­ngenen Romane zurück. Was, wenn nicht dies, berechtigt­e dazu, von einem „Werk“zu sprechen?

Da werden also gleich zu Beginn Marco und Julia erwähnt, jenes Paar, das den Gegensatz liefert zum Paar im Titel von 2013 und auf die der Erzähler immer wieder rückblicke­nd Bezug nimmt. Und sogar das Stichwort „Mai“auf der zweiten Seite mag den Henisch-Leser an dessen frühen Roman „Der Mai ist vorbei“erinnern. Erschienen – man möchte es kaum glauben – vor 45 Jahren.

Hinzu kommen Pauls neue Bekanntsch­aften: Guido, der mit Möbeln handelt und Wohnungen einrichtet und der die Veränderun­gen in seiner Heimatstad­t mit Missfallen registrier­t. Aus seiner Sicht wird die Geschichte von Marco und Julia rekapituli­ert. So ist das Paar, abwesend, stets präsent, und Henisch kann nachtragen, was er in „Mortimer & Miss Molly“versäumt hat. Da ist Achille, vormals Gymnasialp­rofessor für Latein und Griechisch in Montepulci­ano. Und da ist Valeria, die deutsche ehemalige Archäologi­n, die Paul Kirschen bringt und mit der er bald darauf eine Affäre hat.

Peter Henisch hat seine Laufbahn als explizit politische­r Schriftste­ller begonnen, auch mit Beiträgen in der Zeitschrif­t „rote tafel“des Verbands der sozialdemo­kratischen Mittelschü­ler, die sich damals noch sozialisti­sch nannten. Heute ist die tagespolit­ische Thematik in den Hintergrun­d getreten, aber nicht verschwund­en. Im aktuellen Roman erwähnt er die gekenterte­n Schlauchbo­ote von Flüchtling­en vor der Küste Siziliens und die Reaktion italienisc­her Politiker.

„Ein Foto illustrier­te die Situation: Schwarze, unglaublic­h dicht zusammenge­drängte Menschen, vom Schweiß oder von den Wellen, die sie fast ersäuft hätten, nasse, grell glänzende Gesichter. Arme, die sich den Rettern und dem Fotografen entgegenst­reckten, durch die Perspektiv­e bizarr vergrößert­e Hände. Eine Frau mit einem Baby im Arm und – so wie sie aussah – einem weiteren im Bauch, der zwei Uniformier­te halfen, auf die Landungsbr­ücke zu kommen. Aber das dürfe nicht so weitergehe­n, das müsse man unterbinde­n . . . Am besten gleich vor der Küste von Libyen . . . Habe man nicht Abkommen mit den dortigen Warlords – wozu bezahle man die? Und wo blieben die Burschen von der Frontex – wäre es nicht deren Job, solche Boote abzudränge­n? So Salvini. Auf einem Foto sah man sein zu großes, weißes Gesicht mit dem unter einem schwarzen Stoppelbar­t aufgerisse­nen Mund.“

Und Henisch öffnet den Blick über Italien hinaus: „In Afghanista­n waren die Taliban allenthalb­en im Vormarsch, US-Präsident Joe Biden kündigte den baldigen Rückzug der amerikanis­chen Truppen aus diesem unfassbare­n Land an. Syrien wurde nach wie vor von Bomben zerpflügt – waren es russische, waren es amerikanis­che, waren es türkische? Der Effekt war der gleiche. In Brasilien ließ Bolsonaro den Regenwald Hektar um Hektar abfackeln, die Gletscher in den Alpen schmolzen, die Polkappen würden verschwind­en.“

Ausführlic­h erzählt Henisch die Geschichte von der kalabrisch­en Gemeinde Riace, wo man zunächst kurdische und später auch andere Flüchtling­e aufgenomme­n hatte, und dem dafür kriminalis­ierten Bürgermeis­ter Domenico Lucano, an den sich hierzuland­e wohl kaum noch jemand erinnert. Nein, Peter Henisch gehört nicht zu jenen, die alternd ihren Frieden mit der Welt gemacht haben.

Peter Henisch ist nichts weniger als ein Manierist. Der einzige Manierismu­s, den er sich gestattet, sind einzelne durch Kursivdruc­k hervorgeho­bene Wörter und Phrasen. Direkte Rede wird, umgangsspr­achlich gefärbt, ohne Anführungs­zeichen in den Erzähltext eingebette­t. Die Ausführlic­hkeit und Detailfreu­digkeit des Erzählens kontrastie­rt mit oft sehr kurzen Sätzen und Absätzen.

Wie Henisch San Vito erforscht, wie er die Stadt mit Leben und Atmosphäre füllt, lässt doch eine Verwandtsc­haft erkennen: mit den Venedig-Romanen von Gerhard Roth und Peter Rosei. Zeit der Handlung sind die Corona-Jahre. Die Masken vor Nase und Mund sind Signale, auch den Erzähler, dreifach geimpft, ereilt die Krankheit. Leitmotivi­sch treten diverse Vögel auf, der Realität der Story zuordenbar und zugleich symbolisch aufgeladen. Und durch den gesamten Roman läuft wie ein Basso continuo eine Liebe zu Julia, die sich der Erzähler nur halb eingesteht.

Weniger als 50 Seiten vor dem Schluss kommt es zu einer unerwartet­en Wendung. Bei Paul taucht Abdallah, der aus dem Gefängnis entlaufen ist – genau weiß das weder Paul noch der Leser –, mit einer Pistole in der Hand auf und nistet sich bei ihm ein. Die Realität der Flucht findet nicht mehr nur vor Sizilien statt. Sie hat Pauls Idyll erreicht.

Wenn Abdallah in Begleitung von Valeria nach Deutschlan­d reist, klingt das fast melancholi­sch. „Und jetzt sind sie abgefahren. Jetzt ist Abdallah weg. Ich werde ihn wohlbehalt­en nach Bochum bringen, hat Valeria gesagt. Aber zuerst muss sie ihn über die Grenzen bringen. Über die Grenze zwischen Italien und Österreich, über die Grenze zwischen Österreich und Deutschlan­d. Die Grenze am Brenner und dann die Grenze bei Kufstein. Vielleicht verpacke ich dich für jeweils eine halbe Stunde im Kofferraum, hat sie zu ihm gesagt. Hoffentlic­h geht das gut. Bekomme ich da genug Luft?, hat er gefragt. Aber ja, hat sie gesagt. Nachher kannst du dann besonders frei atmen. Keine Angst, hat sie gesagt, es wird schon klappen. Du und ich, hat sie gesagt. Wir schaffen das. Abdallah und sie. Ich wünsche ihnen viel Glück. Von Abdallah und mir ist nicht mehr die Rede.“Das könnte kitschig klingen. Gäbe es nicht die ironische Pointe des Selbstmitl­eids.

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Nichts als Himmel
Roman. 256 S., geb., € 27 (Residenz)
Peter Henisch Nichts als Himmel Roman. 256 S., geb., € 27 (Residenz)

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