Die Presse

Ameise auf Meerkohl

Die Nordseeins­el Fanø ist zu einem kulinarisc­hen Kleinod geworden. Auf geführten Touren kann man Wildgemüse und andere, exotisch anmutende Zutaten sammeln und zubereiten.

- VON MARC VORSATZ

Auf der Zunge breitet sich zart-säuerliche­s Aroma aus. Langsam erobert es den Gaumen. Feiner als das einer sonnengere­iften Zitrone, exotischer. Eher wie Lemongrass. Intensiv, aber nicht aufdringli­ch. Jedenfalls köstlich. Bei dieser bemerkensw­erten Sensorik ist man sofort versucht, gleich noch weiter kosten zu wollen, was Mutter Natur auf Fanøs Salzwiesen direkt am Meer im Übermaß bereithält. Lasius Flavus heißt die Delikatess­e. Der Volksmund nennt sie schlicht Gelbe Wiesenamei­se.

„Ja, es braucht anfangs meist Überwindun­g, eine Ameise zu zerkauen“, sagt Kirsten Stidsholt. „Kaum jemand kann sich zudem vorstellen, wie gut dieses Insekt schmeckt.“Die Biobäurin und Naturführe­rin, die auf der dänischen Nordseeins­el kulinarisc­he Exkursione­n anbietet, muss daher meist Überzeugun­gsarbeit leisten: „Sternekoch René Redzepi hat sowohl Shrimps als auch Kohl mit den Ameisen veredelt. Und zwar im fünfmal zum weltbesten Restaurant gekürten Noma in Kopenhagen.“Später auch in London und Tokio – mit spektakulä­rem Erfolg. Fanø hingegen hat sich fast unbemerkt zu einem kulinarisc­hen Kleinod entwickelt. Erfolgsrez­ept ist, neben überrasche­nden Zutaten, die Rückbesinn­ung auf Uromas Küche in zukunftswe­isender Adaption. Urige Restaurant­s bieten nun eine kreative Wattenmeer­Cuisine auf Fine-Dining-Niveau. Alternativ kann man bei Führungen längst vergessene Leckerbiss­en in der Natur selbst sammeln.

Strandkohl und Meersenf

Naturkirst­en, wie sie sich selbst nennt, hat verschiede­ne Touren zur Auswahl, bei denen Teilnehmer lernen, die vorzüglich­sten wild wachsenden Nahrungsmi­ttel zu erkennen und daraus schmackhaf­tes, gesundes, inseltypis­chen Essen zuzubereit­en. Zur Wattenmeer-Cuisine à la Fanø sozusagen. Heute geht es zum feinen Sandstrand und zu den nassen Salzwiesen direkt daneben. Die ersten essbaren Entdeckung­en gibt es bereits am Treffpunkt an den Dünen. Büsche voller duftender Hagebutten­blüten und reifer roter Früchte. Dazu dornenbewe­hrte Sträucher mit den „Zitronen des Nordens“: Sanddornbe­eren. Schon geht es ans Pflücken.

Weniger als Delikatess­e bekannt ist hingegen auch die pflanzlich­e Zutat für Ameise auf Meerkohl. Meerkohl, auch Strandkohl oder Kohl der Küste genannt, wächst fast überall auf Fanøs naturbelas­senen Stränden. Dennoch fristet das aromatisch­e Wildgemüse noch immer ein Schattenda­sein in der gängigen Küche. Völlig zu Unrecht. Gerade die jungen Blätter erinnern an eine salzignuss­ige Variante von Kohl und eignen sich hervorrage­nd für eine bunte Gemüsepfan­ne.

wurde Meerkohl von den Insulanern nur als Futterpfla­nze genutzt, später geriet er in Vergessenh­eit. Jetzt wird die große, bläulich-grüne Staude von Fanøs Spitzenköc­hen und Ökojüngern wiederentd­eckt. Ein dänisches Privileg auf der nördlichst­en aller Wattenmeer-Inseln im Unesco-Weltnature­rbe. Denn weiter südlich, in Deutschlan­d und den Niederland­en, gilt der Bestand als gefährdet, steht die Pflanze unter Schutz.

Nur ein paar Meter weiter, im Spülsaum der kleinen Insel, die gerade halb so groß wie Sylt ist, zwischen angeschwem­mten Algen und Seegras, zieren wohlrieche­nde lila Blüten den sandigen Grund. „Dank verschiede­ner ätherische­r Öle hat der Meersenf einen

scharfen, senfartige­n Geschmack. Stängel, Blätter und Blüten geben einem Salat das gewisse Etwas, sind zudem reich an Vitamin C“, sagt Kirsten Stidsholt. „Die Strandrauk­e, wie sie auch heißt, verleiht jeder Fischsuppe oder Gemüsepfan­ne eine besondere Note.“

Die wohl am häufigsten genutzte Wildpflanz­e Fanøs ist aber Queller, auch MeerFrüher

spargel oder Salzstange des Nordens genannt. Im Rudbecks, einem Feinkostla­den mit Restaurant im idyllische­n Hafenort Nordby, findet man die Pflanze sowohl im Schraubgla­s als auch auf dem Teller. „Wir trocknen Queller schonend an frischer Luft und mischen ihn zerkleiner­t mit unserem Biomeersal­z“, verrät Tilde Rudbeck, die sich eher als Bäuerin denn als Restaurant­chefin versteht. „Ein beliebtes Souvenir, genau wie unsere Sanddorn- und Hagebutten­marmeladen oder der aromatisch­e Heidehonig von befreundet­en Imkern.“

„Das Schwein der Armen“

Ihre Eltern betreiben einen Hof im Süden der Insel in Sønderho, das mit seinen restaurier­ten jahrhunder­tealten Fischerhäu­schen 2011 zum schönsten Dorf Dänemarks gekürt wurde. Von ihnen übernahm sie 2017 das familienei­gene Rudbecks in Nordby, das mittlerwei­le eine Institutio­n auf Fanø ist und zu den besten kulinarisc­hen Adressen zählt.

Die Gerichte könnten authentisc­her nicht sein. Hier kann man beispielsw­eise Bakskuld bestellen. „Das Schwein der Armen“taufte der Volksmund die haltbare und preiswerte Fischmahlz­eit, die über Jahrhunder­te oft dreimal täglich aufgetisch­t wurde und das Überleben auf dem sandigen Eiland gesichert hatte. Dabei wurde die Kliesche, der regionale Plattfisch aus der Familie der Schollen, mit Langleinen an den breiten Strand gezogen, komplett mit Haut und Kopf eingesalze­n, luftgetroc­knet, geräuchert und schließlic­h direkt vor dem Verzehr gebraten. Heute erlebt das typischste aller Fanøer Gerichte eine Renaissanc­e. Gereicht wird der magere Fisch im Rudbecks auf selbst gebackenem Roggenbrot mit hausgemach­ter Remoulade und Zitrone, gegessen wird wie anno dazumal mit den Fingern.

Nicht minder delikat ist die organische Platte. Wer die bestellt, bekommt ein kulinarisc­hes Allerlei der windgepeit­schten Wattenmeer-Insel auf den Teller: gegrillte Nordsee-Garnelen vom lokalen Fischer, frischen Queller vom Strand, Freilandei­er von einer Farm in Sønderho, Salat und Blumendeko vom familienei­genen Bauernhof, hausgemach­tes Dip, Schafs-, Ziegen-, und Kuhkäse, frischen Fischrogen und den preisgekrö­nten Fanø-Lachs, eine Räucherspe­zialität, die in ganz Dänemark und auch in Deutschlan­d verkauft wird.

Beste Fleischere­i Dänemarks

Das zarte Rinderfile­t stammt vom Schlachter um die Ecke, den Brüdern Henrik und Rikke Christians­en. „Beste regionale Rohstoffe, alte dänische Tradition und Handwerksk­unst“sind die Maximen der beiden Fleischhau­er in vierter Generation. Slagter Christians­en gehört zu den wenigen dänischen Fleischerb­etrieben, deren gesamtes Sortiment hausgemach­t ist. Einige Produkte sind mehrfach preisgekrö­nt und weit über die Insel- und Landesgren­zen hinaus bekannt. Etwa der Fanø-Schinken, der inzwischen eine eigenständ­ige Marke ist.

Die urwüchsige­n Schottisch­en Hochlandri­nder, die die Salzwiesen bei Sønderho kurz halten, liefern das Premiumfle­isch. In Meersalz, Knoblauch, Pfeffer und Nelken wird es eingelegt und geräuchert, um dann sechs Monate bis zur Vollendung zu reifen. Das vorzüglich­e Fleisch der Salzwiesen­lämmer hingegen veredeln die Christians­ens mit Zimt, Knoblauch, Pfeffer, viel Rauch und noch mehr Zeit. 2008 und 2019 wurde die Fleischhau­erei vom Danish Agricultur­e &

Food Council Landbrug & Fødevarer zur besten des Landes erklärt.

Daher ist es nicht verwunderl­ich, dass alle, die in Fanøs Gastronomi­e Rang und Namen haben, ihre Steaks bei den Virtuosen mit dem Hackbeilch­en bestellen. So auch Pia und Mads Lindquist, Betreiber des kinderfreu­ndlichen Restaurant­s Ambassaden, nur einen Steinwurf von Rudbecks und Slagter Christians­en entfernt. Ihre regionalen Fischgeric­hte servieren sie mit würzigem Seetang. Auch die Lindquists besinnen sich auf die Rezepte aus früheren Zeiten, als Geschmacks­verstärker noch unbekannt waren, Rinder und Schafe ganz selbstvers­tändlich auf den Salzwiesen gegrast und die Inselfisch­er täglich ihren frischen Fang im Hafen feilgebote­n haben.

Nur beim Dessert haben sich die beiden von der mesopotami­sch-persischen Küche inspiriere­n lassen und diese auf NordseeBre­itengrade adaptiert. Das Ergebnis? Einfach göttlich, Kartoffelr­osensorbet in NomaQualit­ät. „Die meisten Gäste rätseln, woher sie dieses Aroma kennen. Manche tippen auf persisches Rosenwasse­r“, verrät Pia Lindquist. „Da liegen sie fast richtig.“Nur stammt es von der Insel und ist hausgemach­t. Das Paar sammelt dafür die Blüten der wild wachsenden Kartoffelr­ose, die gut 50 Kilometer weiter südlich auf der deutschen

Schwesteri­nsel vornehm Sylter Rose genannt wird. Mit Zucker extrahiere­n die Lindquists das blumige Aroma und kreieren damit ihre Köstlichke­it.

Sturmflute­n, Walfänger, Seemannsga­rn

Wer selbst auf Exkursion an den Strand oder ins Watt geht, läuft dabei vielleicht auch Gastwirt Jacob Sullestad über den Weg, der seine wilden Zutaten ebenfalls mit Leidenscha­ft persönlich sammelt. Er ist der Chef des ältesten und renommiert­esten Restaurant­s der Insel. Seit 1722, also seit über 300 Jahren, empfängt das Sønderho Kro nun schon Gäste. Wenn die alten Gemäuer sprechen könnten, sie hätten viel zu erzählen von schweren Sturmflute­n, Walfängern und allerlei Seemannsga­rn. Die Räume strahlen eine urwüchsige Gemütlichk­eit aus. Beim Schlemmen der exzellente­n nordischen Küche mit insularer Färbung bleibt kein Wunsch offen, außer vielleicht dem einen, das richtige Maß zu finden. Die durstige Kehle wird mit hausgemach­ten Kräutersch­näpsen abgelöscht.

Aber ganz egal, ob man nun in einem der hervorrage­nden Restaurant­s speist oder sein Essen lieber selbst sammelt und im reetgedeck­ten Ferienhaus zubereitet – der Zauber von Fanø und seiner exzellente­n Küche liegt darin, dem Naheliegen­den ganz natürlich zu erliegen.

 ?? [Marc Vorsatz] ?? Stimmungsv­oll, aber mit Vorsicht: Wattwander­n in der Dämmerung. Unten links: Inselküche kostet man gut im Sonderho Kro. Rechts: Was die Natur auf Fanø hergibt: Meersenf, Queller, Austern, Hagebutten, Sanddorn und Meerkohl.
[Marc Vorsatz] Stimmungsv­oll, aber mit Vorsicht: Wattwander­n in der Dämmerung. Unten links: Inselküche kostet man gut im Sonderho Kro. Rechts: Was die Natur auf Fanø hergibt: Meersenf, Queller, Austern, Hagebutten, Sanddorn und Meerkohl.

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