Ameise auf Meerkohl
Die Nordseeinsel Fanø ist zu einem kulinarischen Kleinod geworden. Auf geführten Touren kann man Wildgemüse und andere, exotisch anmutende Zutaten sammeln und zubereiten.
Auf der Zunge breitet sich zart-säuerliches Aroma aus. Langsam erobert es den Gaumen. Feiner als das einer sonnengereiften Zitrone, exotischer. Eher wie Lemongrass. Intensiv, aber nicht aufdringlich. Jedenfalls köstlich. Bei dieser bemerkenswerten Sensorik ist man sofort versucht, gleich noch weiter kosten zu wollen, was Mutter Natur auf Fanøs Salzwiesen direkt am Meer im Übermaß bereithält. Lasius Flavus heißt die Delikatesse. Der Volksmund nennt sie schlicht Gelbe Wiesenameise.
„Ja, es braucht anfangs meist Überwindung, eine Ameise zu zerkauen“, sagt Kirsten Stidsholt. „Kaum jemand kann sich zudem vorstellen, wie gut dieses Insekt schmeckt.“Die Biobäurin und Naturführerin, die auf der dänischen Nordseeinsel kulinarische Exkursionen anbietet, muss daher meist Überzeugungsarbeit leisten: „Sternekoch René Redzepi hat sowohl Shrimps als auch Kohl mit den Ameisen veredelt. Und zwar im fünfmal zum weltbesten Restaurant gekürten Noma in Kopenhagen.“Später auch in London und Tokio – mit spektakulärem Erfolg. Fanø hingegen hat sich fast unbemerkt zu einem kulinarischen Kleinod entwickelt. Erfolgsrezept ist, neben überraschenden Zutaten, die Rückbesinnung auf Uromas Küche in zukunftsweisender Adaption. Urige Restaurants bieten nun eine kreative WattenmeerCuisine auf Fine-Dining-Niveau. Alternativ kann man bei Führungen längst vergessene Leckerbissen in der Natur selbst sammeln.
Strandkohl und Meersenf
Naturkirsten, wie sie sich selbst nennt, hat verschiedene Touren zur Auswahl, bei denen Teilnehmer lernen, die vorzüglichsten wild wachsenden Nahrungsmittel zu erkennen und daraus schmackhaftes, gesundes, inseltypischen Essen zuzubereiten. Zur Wattenmeer-Cuisine à la Fanø sozusagen. Heute geht es zum feinen Sandstrand und zu den nassen Salzwiesen direkt daneben. Die ersten essbaren Entdeckungen gibt es bereits am Treffpunkt an den Dünen. Büsche voller duftender Hagebuttenblüten und reifer roter Früchte. Dazu dornenbewehrte Sträucher mit den „Zitronen des Nordens“: Sanddornbeeren. Schon geht es ans Pflücken.
Weniger als Delikatesse bekannt ist hingegen auch die pflanzliche Zutat für Ameise auf Meerkohl. Meerkohl, auch Strandkohl oder Kohl der Küste genannt, wächst fast überall auf Fanøs naturbelassenen Stränden. Dennoch fristet das aromatische Wildgemüse noch immer ein Schattendasein in der gängigen Küche. Völlig zu Unrecht. Gerade die jungen Blätter erinnern an eine salzignussige Variante von Kohl und eignen sich hervorragend für eine bunte Gemüsepfanne.
wurde Meerkohl von den Insulanern nur als Futterpflanze genutzt, später geriet er in Vergessenheit. Jetzt wird die große, bläulich-grüne Staude von Fanøs Spitzenköchen und Ökojüngern wiederentdeckt. Ein dänisches Privileg auf der nördlichsten aller Wattenmeer-Inseln im Unesco-Weltnaturerbe. Denn weiter südlich, in Deutschland und den Niederlanden, gilt der Bestand als gefährdet, steht die Pflanze unter Schutz.
Nur ein paar Meter weiter, im Spülsaum der kleinen Insel, die gerade halb so groß wie Sylt ist, zwischen angeschwemmten Algen und Seegras, zieren wohlriechende lila Blüten den sandigen Grund. „Dank verschiedener ätherischer Öle hat der Meersenf einen
scharfen, senfartigen Geschmack. Stängel, Blätter und Blüten geben einem Salat das gewisse Etwas, sind zudem reich an Vitamin C“, sagt Kirsten Stidsholt. „Die Strandrauke, wie sie auch heißt, verleiht jeder Fischsuppe oder Gemüsepfanne eine besondere Note.“
Die wohl am häufigsten genutzte Wildpflanze Fanøs ist aber Queller, auch MeerFrüher
spargel oder Salzstange des Nordens genannt. Im Rudbecks, einem Feinkostladen mit Restaurant im idyllischen Hafenort Nordby, findet man die Pflanze sowohl im Schraubglas als auch auf dem Teller. „Wir trocknen Queller schonend an frischer Luft und mischen ihn zerkleinert mit unserem Biomeersalz“, verrät Tilde Rudbeck, die sich eher als Bäuerin denn als Restaurantchefin versteht. „Ein beliebtes Souvenir, genau wie unsere Sanddorn- und Hagebuttenmarmeladen oder der aromatische Heidehonig von befreundeten Imkern.“
„Das Schwein der Armen“
Ihre Eltern betreiben einen Hof im Süden der Insel in Sønderho, das mit seinen restaurierten jahrhundertealten Fischerhäuschen 2011 zum schönsten Dorf Dänemarks gekürt wurde. Von ihnen übernahm sie 2017 das familieneigene Rudbecks in Nordby, das mittlerweile eine Institution auf Fanø ist und zu den besten kulinarischen Adressen zählt.
Die Gerichte könnten authentischer nicht sein. Hier kann man beispielsweise Bakskuld bestellen. „Das Schwein der Armen“taufte der Volksmund die haltbare und preiswerte Fischmahlzeit, die über Jahrhunderte oft dreimal täglich aufgetischt wurde und das Überleben auf dem sandigen Eiland gesichert hatte. Dabei wurde die Kliesche, der regionale Plattfisch aus der Familie der Schollen, mit Langleinen an den breiten Strand gezogen, komplett mit Haut und Kopf eingesalzen, luftgetrocknet, geräuchert und schließlich direkt vor dem Verzehr gebraten. Heute erlebt das typischste aller Fanøer Gerichte eine Renaissance. Gereicht wird der magere Fisch im Rudbecks auf selbst gebackenem Roggenbrot mit hausgemachter Remoulade und Zitrone, gegessen wird wie anno dazumal mit den Fingern.
Nicht minder delikat ist die organische Platte. Wer die bestellt, bekommt ein kulinarisches Allerlei der windgepeitschten Wattenmeer-Insel auf den Teller: gegrillte Nordsee-Garnelen vom lokalen Fischer, frischen Queller vom Strand, Freilandeier von einer Farm in Sønderho, Salat und Blumendeko vom familieneigenen Bauernhof, hausgemachtes Dip, Schafs-, Ziegen-, und Kuhkäse, frischen Fischrogen und den preisgekrönten Fanø-Lachs, eine Räucherspezialität, die in ganz Dänemark und auch in Deutschland verkauft wird.
Beste Fleischerei Dänemarks
Das zarte Rinderfilet stammt vom Schlachter um die Ecke, den Brüdern Henrik und Rikke Christiansen. „Beste regionale Rohstoffe, alte dänische Tradition und Handwerkskunst“sind die Maximen der beiden Fleischhauer in vierter Generation. Slagter Christiansen gehört zu den wenigen dänischen Fleischerbetrieben, deren gesamtes Sortiment hausgemacht ist. Einige Produkte sind mehrfach preisgekrönt und weit über die Insel- und Landesgrenzen hinaus bekannt. Etwa der Fanø-Schinken, der inzwischen eine eigenständige Marke ist.
Die urwüchsigen Schottischen Hochlandrinder, die die Salzwiesen bei Sønderho kurz halten, liefern das Premiumfleisch. In Meersalz, Knoblauch, Pfeffer und Nelken wird es eingelegt und geräuchert, um dann sechs Monate bis zur Vollendung zu reifen. Das vorzügliche Fleisch der Salzwiesenlämmer hingegen veredeln die Christiansens mit Zimt, Knoblauch, Pfeffer, viel Rauch und noch mehr Zeit. 2008 und 2019 wurde die Fleischhauerei vom Danish Agriculture &
Food Council Landbrug & Fødevarer zur besten des Landes erklärt.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass alle, die in Fanøs Gastronomie Rang und Namen haben, ihre Steaks bei den Virtuosen mit dem Hackbeilchen bestellen. So auch Pia und Mads Lindquist, Betreiber des kinderfreundlichen Restaurants Ambassaden, nur einen Steinwurf von Rudbecks und Slagter Christiansen entfernt. Ihre regionalen Fischgerichte servieren sie mit würzigem Seetang. Auch die Lindquists besinnen sich auf die Rezepte aus früheren Zeiten, als Geschmacksverstärker noch unbekannt waren, Rinder und Schafe ganz selbstverständlich auf den Salzwiesen gegrast und die Inselfischer täglich ihren frischen Fang im Hafen feilgeboten haben.
Nur beim Dessert haben sich die beiden von der mesopotamisch-persischen Küche inspirieren lassen und diese auf NordseeBreitengrade adaptiert. Das Ergebnis? Einfach göttlich, Kartoffelrosensorbet in NomaQualität. „Die meisten Gäste rätseln, woher sie dieses Aroma kennen. Manche tippen auf persisches Rosenwasser“, verrät Pia Lindquist. „Da liegen sie fast richtig.“Nur stammt es von der Insel und ist hausgemacht. Das Paar sammelt dafür die Blüten der wild wachsenden Kartoffelrose, die gut 50 Kilometer weiter südlich auf der deutschen
Schwesterinsel vornehm Sylter Rose genannt wird. Mit Zucker extrahieren die Lindquists das blumige Aroma und kreieren damit ihre Köstlichkeit.
Sturmfluten, Walfänger, Seemannsgarn
Wer selbst auf Exkursion an den Strand oder ins Watt geht, läuft dabei vielleicht auch Gastwirt Jacob Sullestad über den Weg, der seine wilden Zutaten ebenfalls mit Leidenschaft persönlich sammelt. Er ist der Chef des ältesten und renommiertesten Restaurants der Insel. Seit 1722, also seit über 300 Jahren, empfängt das Sønderho Kro nun schon Gäste. Wenn die alten Gemäuer sprechen könnten, sie hätten viel zu erzählen von schweren Sturmfluten, Walfängern und allerlei Seemannsgarn. Die Räume strahlen eine urwüchsige Gemütlichkeit aus. Beim Schlemmen der exzellenten nordischen Küche mit insularer Färbung bleibt kein Wunsch offen, außer vielleicht dem einen, das richtige Maß zu finden. Die durstige Kehle wird mit hausgemachten Kräuterschnäpsen abgelöscht.
Aber ganz egal, ob man nun in einem der hervorragenden Restaurants speist oder sein Essen lieber selbst sammelt und im reetgedeckten Ferienhaus zubereitet – der Zauber von Fanø und seiner exzellenten Küche liegt darin, dem Naheliegenden ganz natürlich zu erliegen.