Spaziergang nach Mittelerde
In Oxford schrieb J. R. R. Tolkien mit dem „Hobbit“und dem „Herrn der Ringe“zwei Bestseller des 20. Jahrhunderts. 50 Jahre nach seinem Tod am 2. September 1973 ist sein Werk populärer denn je.
Literatur, Architektur, Pubkultur: Zwischen Blackwells, einer der schönsten Buchhandlungen der westlichen Welt, dem Pub The King’s Arms, der Weston Library und dem Sheldonian Theatre, mit dessen Bau sich der junge Christopher Wren 1663 erste Meriten erworben hat, konzentriert sich die Essenz Oxfords. Einmal im Monat treffen sich hier zudem Tolkien-Fans aus aller Welt zur Spurensuche. So haben sich auch an diesem Samstag 19 Fans der „Herr der Ringe“-Trilogie in der Broad Street versammelt, die tatsächlich breit, aber heute eher Flanierzone als Straße ist. Größer dürfen die Gruppen nicht sein, um weder Gassen zu verstopfen noch die Stimme von Tourguide Rob Walters zu sehr zu strapazieren.
„Ich zeige Ihnen nur, wo die Leichen vergraben sind“, scherzt Walters. Er sei selbst kein Experte für die Werke des Schriftstellers, Sprach-, Literaturwissenschaftlers und Zeichners J. R. R. Tolkien. Dafür kennt er alle Schauplätze dessen Leben als Student und später als Professor und Bestsellerautor in Oxford. Neben Tolkien steht auch sein Kollege und Freund C. S. Lewis, Schöpfer der „Narnia-Chroniken“, im Mittelpunkt der Tour. Die beiden trafen sich mindestens einmal in der Woche mit anderen Kollegen zum mittäglichen Pint im Pub oder in Lewis’ Wohnung in Magdalen College. Hinter Guide Rob Walters erhebt sich das Trinity College, eines von 39, die heute die knapp 1000 Jahre alten University of Oxford bilden. Wenige Schritte von hier wird es gleich ernst: In der Turl Street liegt mit dem 1314 gegründeten Exeter College Tolkiens Alma Mater. „Hinter diesem Fenster hatte er sein Zimmer“, sagt Walters, deutet auf eines in der ersten Etage und zeigt die Kopie einer Zeichnung aus der begabten Hand Tolkiens. Dass sich seit dessen Studentenzeit baulich wenig verändert hat, liegt in der Natur der ältesten Universität der englischsprachigen Welt. Es ist nicht ihr geringster Reiz.
Tätig im Bereich des W
Ein Leben in Oxford war Tolkien nicht vorbestimmt. 1892 in Bloemfontein in Südafrika als Sohn englischer Eltern geboren, verlor John Ronald Reuel Tolkien seinen Vater im Alter von vier Jahren, als er mit Mutter Mabel und dem jüngeren Bruder, Hilary, auf Verwandtenbesuch in England war. Die Mutter beschloss, mit den Kindern in Birmingham zu bleiben. 1904 starb auch sie früh, an Diabetes. Ihre Söhne, zehn und zwölf Jahre alt, blieben in der Obhut ihres Vormunds, einem Priester, der ihre schulische Laufbahn plante. Tolkien interessierte sich bald für Sprachen sowie altenglische und altnordische Literatur und verliebte sich mit 16 Jahren in seine spätere Frau, Edith. Nachdem den beiden weitere Treffen untersagt wurden, sahen sie einander erst 1913 wieder, als er in Oxford seinen ersten Abschluss machte und sie bereits mit einem anderen verlobt war. Doch am Ende eines langen Spaziergangs nahm sie Tolkiens Heiratsantrag an. Somit waren die Weichen gestellt. Nach seiner Rückkehr aus dem Weltkrieg erhielt er seinen ersten Job als Redakteur für das „Oxford English Dictionary“. „Er war im Bereich des Buchstabens W tätig“, erklärt Walters, und nachfolgende Generationen haben herausgearbeitet, welche Spuren aus dem Wörterbuch den Weg nach Mittelerde gefunden haben. Nach einem Umweg als Universitätslehrer in Leeds wurde er 1925 Professor für angelsächsische Literatur am Pembroke College in Oxford – sehr erfolgreich. Die Studenten bewunderten sein überaus umfangreiches Wissen und schätzten ihn als unterhaltsamen Lehrer, der Vorlesungen durchdringend mit „Hwaet!“begann, dem ersten Wort im altenglischen Epos „Beowulf“.
Am Eingang von Pembroke College werfen die Tolkienisten sehnsüchtige Blicke in den Innenhof.
„Er wohnte an der Northmoor Road 22, später im Haus gleich nebenan, und radelte täglich zum College. Hinter dem Fenster da drüben hatte er sein Arbeitszimmer“, erklärt der Guide. Für „Mittelerde“-Fans ist dies geweihter Boden, denn hier schrieb Tolkiens den „Hobbit“und begann mit dem „Herrn der Ringe“, der erst Mitte der 1950er erschien. Scheinbar unbeeindruckte Studenten passieren die Pförtnerloge. Pembroke ist, wie die meisten Colleges, nur zu festgelegten, hier sehr knapp bemessenen Zeiten öffentlich zugänglich; meist genießt der
akademische Nachwuchs ähnlich exklusive Ruhe wie einst Tolkien.
Ringen um Pub und Privathaus
Anders ist die Lage in den von Tolkien rege genutzten Lokalen. Das an der St. Giles Street gelegene Pub The Eagle and Child war das Lieblingslokal der „Inklings“, zu deren Kern neben Tolkien und Lewis auch dessen Bruder und der Schriftsteller Charles Williams gehörten. Leider wurde das Pub zu Beginn der Pandemie geschlossen, ohne wieder zu öffnen – bislang. „Das Argument war, dass man als
gemeinnützige Einrichtung keine Verluste machen darf“, erzählt Walters. „Dabei ist das St. John’s College, dem das Pub gehört, eines der reichsten in Oxford.“Nun aber soll der neue Pächter bald gewählt sein. „Höchste Zeit“, sagt Rob Walters. „Die Menschen kommen aus der ganzen Welt, um Bier zu trinken, wo die Inklings ihres getrunken haben.“Im The Lamb and Flag, einem weiteren Lieblingstreff der Literaten, ist es derweil voller denn je.
Auch um das Privathaus Tolkiens im Norden der Stadt gab es zuletzt Unruhe. Als es auf den Markt kam, versuchten Fans, das Haus, in dem er, Edith und die vier Tolkien-Kinder lebten, durch Crowdfunding zu ersteigern, um ein Museum einzurichten. Stattdessen ging es für fünf Millionen Pfund an Private. „Ich bin froh, dass nichts aus dem Projekt geworden ist“, sagt Walters. „Es ist eine reine Wohngegend, das Haus nicht riesig. Es hätte einfach nicht gepasst.“
1937 erschien der „Hobbit“, der von Lesern wie Kritikern begeistert aufgenommen wurde und sich mehr als 100 Millionen Mal verkaufen
sollte. 1945 gab es einen weiteren akademischen Karrieresprung. Tolkien wurde Professor für Englische Sprache und Literatur am Merton College, einem der ältesten der Universität, an dem er viele Jahre zuvor bei einer Besprechung des Englischen Seminars C. S. Lewis kennengelernt hatte. Hier beendete er den „Herrn der Ringe“, und von hier aus ging der mittlerweile weltberühmte Autor 1959 in Pension.
Unablässig geschrieben
Geschickt verbindet Guide Walters die biografischen Stationen Tolkiens und der Inklings mit den grünen Innenhöfen der Colleges, aus denen am Samstagnachmittag Klavierklänge, Studierende und Besucher quellen. Er zitiert aus Briefen und Tagebüchern, zeigt Fotos und die passenden Bauten. C. S. Lewis bewarb sich 1916 vergeblich am New College (gegründet 1379), wurde aber vom (noch älteren) University College trotz seines Versagens bei der mathematischen Aufnahmeprüfung zugelassen. Er sollte sich mit einem hervorragenden Abschluss für das in ihn gesetzte Vertrauen bedanken und lehrte ab 1925 am vielleicht schönsten College Oxfords: Magdalen war unter anderem die Alma Mater des irischen Dichters und Dramatikers Oscar Wilde, liegt romantisch am Fluss Cherwell und besitzt einen prachtvollen Park mit Wild. Hier überzeugte Tolkien seinen Freund im Zuge einer nächtelangen Debatte von der Notwendigkeit des christlichen Glaubens. Allerdings blieb der gebürtige Nordire Lewis Mitglied der anglikanischen Kirche, während Tolkien katholisch war.
Seiner Edith zuliebe zogen die Tolkiens als Ruheständler an die englische Südküste, wo er unablässig weiterschrieb. Nach Ediths Tod 1971 kehrte er nach Oxford zurück, wo sein ehemaliges College ihm eine Wohnung überließ. „Da oben wohnte er“, sagt Walters und zeigt auf eine Fensterreihe in der Merton Street. Walters beendet die Tour am Eingang zum Botanischen Garten an der High Street. „Tolkien ist am 2. September 1973 im Alter von 81 Jahren gestorben“, sagt er und empfiehlt einen Besuch des Friedhofs Wolverton im Norden Oxfords. Dort fand Tolkien an der Seite Ediths seine letzte Ruhe. Lewis war bereits zehn Jahre zuvor verstorben, am 22. November 1963. Trotz seines immensen literarischen Erfolgs wurde sein Tod kaum bemerkt. Denn an jenem Tag starben auch Aldous Huxley – und US-Präsident John F. Kennedy.