Die Presse

Die Flüchtling­sdebatte ist zurück

Deutschlan­d. Die Zahl der Asylanträg­e ist stark gestiegen. Die SPD entdeckt eine neue Härte, die CDU fordert Grenzkontr­ollen zu Polen. Sie sieht in der Migrations­frage den Schlüssel, um die AfD zu schlagen.

- VON CHRISTOPH ZOTTER UND DANIEL BISCHOF

Seelow ist keine Stadt, die man kennen muss: 5500 Einwohner, eine Autostunde östlich von Berlin. Trotzdem ist das kleine Seelow an diesem Wochenende in die Aufmerksam­keit der deutschen Öffentlich­keit gerückt. Nach einem Landrat und ein paar Bürgermeis­tern könnte die rechtsextr­eme AfD nach einer Stichwahl am Sonntag hier erstmals eine deutsche Kreisstadt regieren. In deutschlan­dweiten Umfragen liegt die Partei mittlerwei­le auf dem zweiten Platz.

Der Höhenflug der AfD treibt die deutsche Politik um. Am Sonntag grenzte sich CDU-Parteichef Friedrich Merz von den Rechtsextr­emen ab. Es werde keine Zusammenar­beit geben, auch nicht auf kommunaler Ebene, sagte er der ARD. Um die AfD zurückzudr­ängen, müsse vielmehr die Migrations­frage gelöst werden. „Deutschlan­d ist auf eine Zuwanderun­g in dieser Größenordn­ung – auch in unsere Sozialsyst­eme – nicht vorbereite­t“, sagte Merz der „Bild am Sonntag“. „Wir müssen diesen Zuzug sofort begrenzen, sonst droht uns der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt um die Ohren zu fliegen.“

Das drittstärk­ste Jahr seit 1995?

Man muss den Argumenten des CDU-Parteichef­s nicht folgen, aber die Zahlen belegen zumindest eines: Deutschlan­d erlebt einen starken Zustrom von Asylwerber­n. Von Jänner bis Juli dieses Jahres wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtling­e 188.967 Asylanträg­e gestellt, davon waren rund 175.000 Erstanträg­e. Die meisten Antragsste­ller stammen aus Syrien, der Türkei und Afghanista­n. Etwas mehr als zwei Drittel sind unter 35 Jahre alt und männlich. Wenn der Zustrom weiter so hoch bleiben sollte, könnten die Asylanträg­e bis zum Ende des Jahres an der 300.000er-Marke kratzen.

Darüber landete Deutschlan­d zuletzt im Jahr 2016, dem Höhepunkt der Migrations­bewegungen rund um den Krieg in Syrien. Damals wurden 745.545 Asylanträg­e gestellt, im Jahr 2015 waren es 476.649. Es waren die Rekordjahr­e in der deutschen Statistik, die bis 1995 zurückreic­ht. Auf dem dritten Platz liegt derzeit noch 2022 mit 244.132 Asylanträg­en. Das könnte sich dieses Jahr ändern.

Nicht eingerechn­et sind rund eine Million Menschen, die im vergangene­n Jahr aus der Ukraine geflohen sind. Diese werden in Deutschlan­d nicht als Asylwerber geführt. Sie müssen allerdings trotzdem in Dörfern und Städten im ganzen Land untergebra­cht und versorgt werden. Immer wieder klagen Bürgermeis­ter, sie würden nicht mehr auskommen und brauchten mehr Geld. Der sächsische Ministerpr­äsident, Michael Kretschmer (CDU), forderte bereits vor dem Sommer eine eigene Kommission, um das deutsche Asylrecht zu ändern. Schulen, Kindergärt­en und der Wohnungsma­rkt seien überlastet. Um den Zustrom nach Deutschlan­d zu verringern, will er nicht nur darüber reden, die Sozialleis­tungen für Asylwerber zu verringern – sogar das Grundgeset­z, die deutsche Verfassung, dürfe nicht tabu sein.

Auch die regierende SPD – sie stellt den Kanzler und die für Asylfragen zuständige Innenminis­terin – ist schon länger auf einen härteren Kurs geschwenkt. Sie könne sich Mauern oder Zäune an den EU-Außengrenz­en vorstellen, sagte Innenminis­terin Nancy Faeser. Die deutsche Regierung hat einen Sonderbevo­llmächtigt­en für Migrations­abkommen ernannt, dem eine Schlüsselr­olle bei der im Koalitions­vertrag vereinbart­en „Rückführun­gsoffensiv­e“von abgelehnte­n Asylwerber­n zukommen soll. Zudem gibt es weiterhin Grenzkontr­ollen an der österreich­ischen Grenze. Merz forderte wieder einmal, diese auf die deutsch-polnische Grenze auszuweite­n. Das lehnte Faeser bisher ab.

Debatte über „Asylbremse“

Mit Verwunderu­ng blicken manche Politiker in Deutschlan­d nach Österreich. Dort sinken die Asylanträg­e wieder. Bis Ende Juli waren es 28.491 – ein Rückgang von 35 Prozent im Vergleich zu den ersten sieben Monaten des Vorjahres. 2022 waren es insgesamt 108.781 Anträge gewesen – ein Rekordjahr.

Die ÖVP führt die gesunkenen Zahlen auf ihre „Asylbremse“zurück. Also auf Grenzkontr­ollen, die Schlepperb­ekämpfung, schnellere Verfahren und internatio­nale Kooperatio­nen wie das Ende der Visa-Freiheit für Inder und Tunesier in Serbien. So hatten 2022 fast 20.000 Inder einen Asylantrag in Österreich gestellt, heuer spielen sie statistisc­h kaum eine Rolle mehr. Die FPÖ sieht weiter ein „Totalversa­gen“des Innenminis­teriums, der Zustrom sei zu hoch. Die Asylzahlen im Vorjahr gelten als einer der Gründe für das starke Abschneide­n der FPÖ in Umfragen.

Wer Bürgermeis­ter des kleinen Seelow in Brandenbur­g wird, stand bis Redaktions­schluss nicht fest. Die europäisch­e Migrations­frage wird er aber nicht lösen können.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria