Die Flüchtlingsdebatte ist zurück
Deutschland. Die Zahl der Asylanträge ist stark gestiegen. Die SPD entdeckt eine neue Härte, die CDU fordert Grenzkontrollen zu Polen. Sie sieht in der Migrationsfrage den Schlüssel, um die AfD zu schlagen.
Seelow ist keine Stadt, die man kennen muss: 5500 Einwohner, eine Autostunde östlich von Berlin. Trotzdem ist das kleine Seelow an diesem Wochenende in die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Nach einem Landrat und ein paar Bürgermeistern könnte die rechtsextreme AfD nach einer Stichwahl am Sonntag hier erstmals eine deutsche Kreisstadt regieren. In deutschlandweiten Umfragen liegt die Partei mittlerweile auf dem zweiten Platz.
Der Höhenflug der AfD treibt die deutsche Politik um. Am Sonntag grenzte sich CDU-Parteichef Friedrich Merz von den Rechtsextremen ab. Es werde keine Zusammenarbeit geben, auch nicht auf kommunaler Ebene, sagte er der ARD. Um die AfD zurückzudrängen, müsse vielmehr die Migrationsfrage gelöst werden. „Deutschland ist auf eine Zuwanderung in dieser Größenordnung – auch in unsere Sozialsysteme – nicht vorbereitet“, sagte Merz der „Bild am Sonntag“. „Wir müssen diesen Zuzug sofort begrenzen, sonst droht uns der gesellschaftliche Zusammenhalt um die Ohren zu fliegen.“
Das drittstärkste Jahr seit 1995?
Man muss den Argumenten des CDU-Parteichefs nicht folgen, aber die Zahlen belegen zumindest eines: Deutschland erlebt einen starken Zustrom von Asylwerbern. Von Jänner bis Juli dieses Jahres wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 188.967 Asylanträge gestellt, davon waren rund 175.000 Erstanträge. Die meisten Antragssteller stammen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan. Etwas mehr als zwei Drittel sind unter 35 Jahre alt und männlich. Wenn der Zustrom weiter so hoch bleiben sollte, könnten die Asylanträge bis zum Ende des Jahres an der 300.000er-Marke kratzen.
Darüber landete Deutschland zuletzt im Jahr 2016, dem Höhepunkt der Migrationsbewegungen rund um den Krieg in Syrien. Damals wurden 745.545 Asylanträge gestellt, im Jahr 2015 waren es 476.649. Es waren die Rekordjahre in der deutschen Statistik, die bis 1995 zurückreicht. Auf dem dritten Platz liegt derzeit noch 2022 mit 244.132 Asylanträgen. Das könnte sich dieses Jahr ändern.
Nicht eingerechnet sind rund eine Million Menschen, die im vergangenen Jahr aus der Ukraine geflohen sind. Diese werden in Deutschland nicht als Asylwerber geführt. Sie müssen allerdings trotzdem in Dörfern und Städten im ganzen Land untergebracht und versorgt werden. Immer wieder klagen Bürgermeister, sie würden nicht mehr auskommen und brauchten mehr Geld. Der sächsische Ministerpräsident, Michael Kretschmer (CDU), forderte bereits vor dem Sommer eine eigene Kommission, um das deutsche Asylrecht zu ändern. Schulen, Kindergärten und der Wohnungsmarkt seien überlastet. Um den Zustrom nach Deutschland zu verringern, will er nicht nur darüber reden, die Sozialleistungen für Asylwerber zu verringern – sogar das Grundgesetz, die deutsche Verfassung, dürfe nicht tabu sein.
Auch die regierende SPD – sie stellt den Kanzler und die für Asylfragen zuständige Innenministerin – ist schon länger auf einen härteren Kurs geschwenkt. Sie könne sich Mauern oder Zäune an den EU-Außengrenzen vorstellen, sagte Innenministerin Nancy Faeser. Die deutsche Regierung hat einen Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen ernannt, dem eine Schlüsselrolle bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten „Rückführungsoffensive“von abgelehnten Asylwerbern zukommen soll. Zudem gibt es weiterhin Grenzkontrollen an der österreichischen Grenze. Merz forderte wieder einmal, diese auf die deutsch-polnische Grenze auszuweiten. Das lehnte Faeser bisher ab.
Debatte über „Asylbremse“
Mit Verwunderung blicken manche Politiker in Deutschland nach Österreich. Dort sinken die Asylanträge wieder. Bis Ende Juli waren es 28.491 – ein Rückgang von 35 Prozent im Vergleich zu den ersten sieben Monaten des Vorjahres. 2022 waren es insgesamt 108.781 Anträge gewesen – ein Rekordjahr.
Die ÖVP führt die gesunkenen Zahlen auf ihre „Asylbremse“zurück. Also auf Grenzkontrollen, die Schlepperbekämpfung, schnellere Verfahren und internationale Kooperationen wie das Ende der Visa-Freiheit für Inder und Tunesier in Serbien. So hatten 2022 fast 20.000 Inder einen Asylantrag in Österreich gestellt, heuer spielen sie statistisch kaum eine Rolle mehr. Die FPÖ sieht weiter ein „Totalversagen“des Innenministeriums, der Zustrom sei zu hoch. Die Asylzahlen im Vorjahr gelten als einer der Gründe für das starke Abschneiden der FPÖ in Umfragen.
Wer Bürgermeister des kleinen Seelow in Brandenburg wird, stand bis Redaktionsschluss nicht fest. Die europäische Migrationsfrage wird er aber nicht lösen können.