Wie ein NS-Pamphlet den bayerischen Wahlkampf aufwühlt
Ein antisemitisches Flugblatt, das der Bruder des Chefs der Freien Wähler als Gymnasiast verfasst haben soll, bringt auch Hubert Aiwanger in Bedrängnis.
Wien/München. Im bayerischen Wahlkampf geht es oft rustikal und mitunter derb und zotig zu, erst recht auf Volksfesten und in Bierzelten. Hubert Aiwanger zählt zu jenen, die am kräftigsten austeilen und lospoltern. Der Chef der Freien Wähler, Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident unter Markus Söder, keilt am liebsten via soziale Medien gegen die Ampel-Koalition in Berlin. Als „Twitter-Hubsi“ist er über den Freistaat hinaus berüchtigt, weil er zu allem und jedem seine Meinung hinausposaunt.
Nun holte den niederbayerischen Populisten eine Affäre aus der Vergangenheit ein, die weit mehr als ein Dummer-JungenStreich zu Mittelschulzeiten war und eine revisionistische, wenn nicht gar rechtsextremistische Einstellung offenbarte. Söder forderte seinen Koalitionspartner jetzt auch prompt zur Aufklärung der Flugblattaktion auf, die 35 Jahre zurückliegt. Damals fanden sich in der Schultasche des 17-jährigen Gymnasiasten Aiwanger Exemplare des Flugblatts, das vor tumbem und plumpem Antisemitismus nur so strotzt. Mutmaßlich hat er das Pamphlet in der Schule, dem Gymnasium im niederbayerischen Mallersdorf-Pfaffenberg, auch verteilt.
Unter dem Titel „Wer ist der größte Volksverräter?“, eine Reaktion auf einen Aufsatzwettbewerb zur deutschen Geschichte, lobt das Ausschreiben Preise aus. Demnach sollten sich Bewerber im ehemaligen NS-Konzentrationslager Dachau bei München vorstellen, als Preise winkten „ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“oder „ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“.
„Ekelhaft und menschenverachtend“
Es hagelte Rücktrittsaufforderungen gegen Aiwanger und Rufe nach Einberufung einer Sondersitzung des Landtags, bis der 52-jährige Politiker klarstellte, dass er das Flugblatt nicht verfasst habe. Aber: „Ich kenne den Verfasser.“„Ekelhaft und menschenverachtend“sei das Flugblatt – und zwar damals wie heute, distanzierte sich der Chef der Freien Wähler. Zunächst hatte er die Enthüllung als „Schmutzkampagne“qualifiziert. Als das Flugblatt entdeckt worden sei, habe ihm der Direktor mit einer Anzeige bei der Polizei gedroht, erinnert sich Aiwanger. Mit einem Referat habe er die Sache aus der Welt geschafft.
Aiwangers Bruder bekannte sich am Wochenende derweil als Verfasser des Flugblatts. Auch er distanzierte sich von seinem damaligen Treiben. „Ich war damals so wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war. Ich war damals noch minderjährig“, schrieb er zu seiner Entschuldigung. Die „Süddeutsche Zeitung“hatte das Flugblatt aus dem Schuljahr 1987/88 aufgestöbert beziehungsweise zugespielt bekommen.
Fleisch vom Fleisch der CSU
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach einen wunden Punkt an: „Inwiefern Hubert Aiwanger für die Verbreitung zumindest mitverantwortlich ist, wird in Gänze nicht aufzuklären sein.“Der ehemalige Arzt mit einer Ordination im fränkischen Würzburg betonte indes: „Das Flugblatt darf nicht als Jugendsünde abgetan werden, da es die für unser Land so wichtige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus regelrecht mit Füßen tritt.“
Ob die Affäre ausgestanden ist oder ob in der Folge noch weitere kompromittierende Details auftauchen: Der Wahlkampf für die Wahl in sechs Wochen hat ein aufwühlendes Thema gefunden. CSU-Ministerpräsident Söder hatte angekündigt, die Koalition mit den Freien Wählern (FW) fortsetzen zu wollen. Die FW, die sich in Gemeinden und Kleinstädten gegründet hat, ist oftmals Fleisch vom Fleisch der CSU, ein Sammelbecken abtrünniger, frustrierter CSU-Wähler, die sich zu einem Verband zusammengeschlossen haben. Unter Parteichef Aiwanger, der weit über die Grenzen Bayerns hinaus bekannten Galionsfigur, schafften sie den Einzug in den Landtag und vor fünf Jahren auch in die Landesregierung. In Bayern hat sich der „Hubsi“einen Namen als eine Art Bierzeltpolitiker gemacht, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt und als Verfechter der ländlichen Bevölkerung und der „schweigenden Mehrheit“auftritt.
‘‘ Das Flugblatt darf nicht als Jugendsünde abgetan werden, da es die für unser Land so wichtige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus regelrecht mit Füßen tritt.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
Kann die CSU profitieren?
In den Umfragen hält die CSU derzeit bei knapp 40 Prozent, gefolgt von den Grünen und den Freien Wählern mit je 14 Prozent und der AfD mit 13 Prozent. SPD und FDP liegen nur im einstelligen Bereich. Söder erhofft sich von der Affäre nun jene Prozentpunkte, die die CSU über die Marge von rund 45 Prozent hieven könnte, die für eine absolute Mehrheit reichen würden. Unter Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber galt einst sogar die magische Formel: 50 + x. Auch die Grünen, die zuletzt Rückschläge hinnehmen mussten, könnten daraus Kapital schlagen.