„Kurz vor dem Kollaps“: Reden wir unser Gesundheitssystem schlecht?
Pflegekräfte, Ärzte, Politiker, Ökonomen und Journalisten übertreffen einander in ihrem Pessimismus. Ist diese Schwarzmalerei noch angemessen?
Österreichs Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps. Eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung der Bevölkerung kann nicht mehr gewährleistet werden. Die Spitäler fahren bald an die Wand. Der niedergelassene Bereich zerbröckelt. Fachkräfte verlassen das Land oder weichen auf den Privatsektor aus, weil die Krankenhäuser und Ordinationen innerhalb des staatlichen Gesundheitswesens keine attraktiven Arbeitsbedingungen mehr bieten.
Zuschreibungen wie diese dominieren seit einigen Jahren die öffentliche Debatte über Österreichs Gesundheitssystem. Ob Politiker, Ärzte, Pflegekräfte, Ökonomen, Vertreter der Sozialversicherung oder Journalisten – sie alle malen den sprichwörtlichen Teufel an die Wand, wenn sie über die Zukunft von Spitälern, Praxen und Pflegeheimen reden. Ist diese desillusionierende Haltung wirklich angebracht? Oder wird hier maßlos übertrieben, um ausschließlich eigene Interessen zu vertreten und eigene Pfründe zu verteidigen – in verkrusteten Strukturen, in denen es sich die Akteure allzu bequem eingerichtet haben? So bequem, dass sie sogar die zunehmende Verunsicherung der Patienten in Kauf nehmen, um das Aufbrechen dieser Strukturen und eine längst überfällige Neuordnung des Gesundheitssystems mit einer Finanzierung aus einem Topf zu verhindern?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Zeit vor zehn, 15 Jahren. In eine Zeit also, in der die – mit deutlich mehr Dienstposten als heute besetzten – Spitäler noch nicht unter einem Fachkräftemangel litten und es auch mehr Kassenärzte gab. Eine Zeit, in der die Wartezeiten auf Termine, Behandlungen und Operation nicht mehrere Monate betrugen – in Krankenhäusern ebenso wie im niedergelassenen Bereich. Damals hatte Österreich tatsächlich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, vielleicht sogar das beste. Die Spitzenmedizin mit erstmalig durchgeführten Transplantationen und anderen Eingriffen genoss ebenso Weltruf wie die niederschwellige Basisversorgung der Bevölkerung. Durch die Pflichtversicherung – also ohne die freie Wahl des Anbieters – war allen Patienten die gleiche, auf einem sehr hohen Niveau angebotene Versorgung gewiss. Das Gesundheitssystem gehörte sogar zu den Aushängeschildern Österreichs. Vor dem Arzt, der Ärztin waren irgendwie alle gleich – auf diesem unsinkbaren Schiff.
Vielleicht war genau diese Sicherheit das Problem. Denn irgendwann geriet auch dieses Schiff ins Wanken und hält sich mittlerweile gerade noch so über Wasser. Vorausgegangen ist diesem Zustand eine Reihe verhängnisvoller Fehlentscheide. So sahen die Verantwortlichen zu, wie das medizinische Personal nach und nach die Spitäler verließ oder seine Arbeitszeit reduzierte, um ins benachbarte Ausland oder in den Privatsektor zu gehen. Die einen, um mehr zu verdienen, die anderen, um eine bessere Ausbildung zu erhalten. Wiederum andere fanden dort flexiblere Arbeitsbedingungen und eine bessere Work-Life-Balance vor. Hinzu kommt, dass die Vertreter der sogenannten Babyboomer-Generation schrittweise in Pension gehen und damit nicht nur auf dem Arbeitsmarkt fehlen, sondern gleichzeitig auch ein Alter erreichen, in dem sie selbst vermehrt Gesundheitsleistungen benötigen. De facto tatenlos zugesehen wurde auch, wie Kassenverträge angesichts einer wachsenden sowie älter (und damit kränker) werdenden Bevölkerung immer weniger erstrebenswert wurden – aus verschiedenen Gründen wie etwa der veralteten Honorarkataloge. Dadurch stieg die Zahl der Wahlärzte, die sich aber weite Teile der Bevölkerung nicht leisten können.
Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist ein Gesundheitswesen, das bestimmt nicht zu den schlechtesten in Europa gehört, das aber auf dem besten Weg ins (untere) Mittelmaß ist. Aber rechtfertigt dieses Fazit die eingangs erwähnten Aussagen über Österreichs Spitäler und Ordinationen? Ja. Der Zerfall des Gesundheitssystems ist real. Wir reden es nicht schlecht. Nur ist die Fallhöhe derart groß und bietet so viel Raum für berechtigte Kritik, dass es manchmal so wirkt, als würden wir es schlechtreden. Ein Befund, den manche gern negieren würden. Wie das eben so ist bei unangenehmen Befunden.