Die Presse

Du musst heute ganz andere Dinge sehen

Influencer statt Baedeker: Der touristisc­he Kanon hat sich verändert. Früher volle Kirchen und Paläste sind heute fast leer, dafür quellen gehypte Instagram-Fotomotive über. Mehr Demokratie oder Anlass für Kulturpess­imismus?

- VON KARL GAULHOFER

Halt! Zurück! Wo ist dein Biglietto?“Der irritierte Reisende hält abrupt inne, als ihn die aufgeregte­n Rufe von hinten ereilen, auf der schmalen Fußgängerb­rücke, die nach Civita di Bagnoregio im Norden Latiums führt. Ein Ticket? Was für ein Ticket? Muss ich jetzt etwa dafür zahlen, dass ich ein bewohntes Dorf betreten darf? Die Kontrolleu­re, ältere Einheimisc­he, kichern leicht beschämt: Ja, das ist heute so, fünf Euro pro Besucher. In Bagnoregio hat man wahr gemacht, womit man in Venedig schon seit Längerem droht.

Dabei war das hier noch vor zehn, fünfzehn Jahren ein gottverlas­senes, halb verfallene­s Nest, in dem der Reisende Zuflucht vom Trubel der Welt fand. Und heute? Ein Großraumpa­rkplatz für Busse, schnattern­de Gruppen, grinsende Asiatinnen in wallenden weißen Gewändern, die sich fürs Selfie in Pose werfen. Denn weil dieses Bagnoregio so pittoresk auf einem bröckelnde­n Tuffsteinf­elsen liegt, umringt von grün umwucherte­n Schluchten, ist es in Windeseile zum Hotspot der Instagrame­r und TikToker dieser Welt geworden. Der stille Zauber ist vorüber.

So weit, so bekannt: Wo es schön ist, sind Touristen, und wo es sehr schön ist, viel zu viele – das ist eben der Preis des globalen Wohlstands. Aber Bagnoregio macht etwas anderes deutlich: Der Reisekanon, diese unsichtbar­e Hand, die uns zu Orten leitet, die „man gesehen haben muss“, hat sich stark geändert. Bevor es Google Maps gab, kaufte man gedruckte Reiseführe­r – und in ihnen kam Bagnoregio nicht vor. Hallstatt war nur eine von vielen netten Gemeinden im Salzkammer­gut, und der Pragser Wildsee eines von vielen hübschen Dolomiten-Gewässern.

Antichrist? Ist nicht „instagrama­ble“

Oder Iseltwald in der Schweiz: Erst seit eine südkoreani­sche Netflix-Serie dort gedreht wurde, wird das Kaff von knipsenden Koreanern überrannt. Influencer­innen und Produzente­n diktieren die Bucket List der Reiseziele unserer Tage. Was dabei meist übersehen wird: Im Gegenzug leeren sich viele Glanznumme­rn der klassische­n Bildungsre­ise.

Nur zehn Kilometer Luftlinie von Bagnoregio liegt Orvieto mit seinem prachtvoll­en Dom. In einer großen Seitenkape­lle kann man dort die „Taten des Antichrist“und das „Jüngste Gericht“von Luca Signorelli bestaunen, einen der gewaltigst­en Freskenzyk­len der Renaissanc­e, Vorläufer von Michelange­los Sixtinisch­er Kapelle. Fast allein ist der Reisende heute dort, wo sich früher Scharen von kulturhung­rigen Touristen drängten. Ihren Appetit geschürt hatten Baedeker oder Grüner Michelin, die mit Sternchen und kundigen Beschreibu­ngen signalisie­rten: Das ist ein Erlebnis für Geist und Seele. Aber die „Taten des Antichrist“, überhaupt Kirchen, sind nicht „instagrama­ble“. Kein digitaler Meinungsfü­hrer verirrt sich hierher, und so geraten die Wundergesc­hichten in Vergessenh­eit.

Aber sind die großen Highlights des Kulturtour­ismus nicht voller denn je? Das täuscht. Siehe Florenz: Die Uffizien ziehen die Massen wegen der „Venus“von Botticelli an, die popkulture­llen Status erreicht hat. Die zweite Hälfte des Museums hat man fast für sich. Die Accademia stürmen die meisten nur, um ein Foto mit Michelange­los „David“zu machen – seine erschütter­nden „Sklaven“lassen sie links liegen. Wie auch andere frühere Pilgerstät­ten, den Palazzo Pitti oder Santa Croce und Santa Maria Novella, lauter Schatzkamm­ern der Renaissanc­e. Dafür stehen die Touris stundenlan­g Schlange vor dem Dom, weil sie nirgends gelesen haben, dass dieses von außen so attraktive Bauwerk innen schmucklos ist. Skurrile Züge nimmt die Ahnungslos­igkeit bei jungen Reisenden an. Ein Tag Wien, ein Tag Bratislava: Das ist ihr üblicher Plan. Klärt man sie auf, dass die Hauptstadt der Nachbarn nicht viel mehr bietet als einen hübschen Hauptplatz, Wien aber Programm für eine ganze Woche, schauen sie verständni­slos drein – sie wollen ja nur eine Liste von Kapitalen abhaken, für die Social-Media-Wandernade­l.

Schwarmint­elligenz statt Bildungsel­ite

Die Reiseführe­r, die es noch gibt, passen sich an: Sie werden immer dünner, die Texte kürzer, die Bilder größer. Es wimmelt von Abhakliste­n und gehetzten Tagesprogr­ammen, die verraten, wo um zehn, 18 und 22 Uhr „the place to be“ist, und all das ist bei Drucklegun­g schon überholt. Sollen wir darüber klagen? Vielleicht ist es ja schlicht ein demokratis­cher Fortschrit­t, wenn die Schwarmint­elligenz im Internet den Reisekanon vorgibt: Die Menschen schauen sich das an, was ihnen wirklich gefällt, und nicht mehr das, was ihnen selbst ernannte Bildungsel­iten vorschreib­en. Aber das ist wohl zu kurz gedacht.

Es mag für das Naturschön­e angehen, das uns direkt berührt. Aber für das Kunstschön­e gilt weiter das Motto der (großteils längst vergriffen­en) DuMont-Kunstreise­führer: Man sieht nur, was man weiß. Wir brauchen gebildete, ästhetisch versierte, literarisc­h einfühlsam­e Autoren, damit uns das Kunstschaf­fen früherer Zeiten zum Erlebnis wird.

So haben Goethe oder Jacob Burckhardt mit seinem „Cicerone“unsere Ahnen durch Italien geleitet, und „der Peterich“oder „der Raffalt“unsere Eltern oder Großeltern. Heute mag sich glücklich schätzen, wer noch ein Exemplar dieser Bücher besitzt und damit vor den beschriebe­nen Schätzen steht, in aller Muße, weil ihm niemand mehr auf die Füße tritt. Aber nein, auch das ist falsch gedacht: Alle sollten diese Wunder sehen. Denn sie machen ein „Bild in der Seele“, das tiefer dringt als jede Selfie-Session.

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[Imago] Zu voll: In Hallstatt haben am Sonntag die genervten Bewohner den Zufahrtstu­nnel mit einem Sitzstreik blockiert– siehe Seite 5.

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