Die Presse

Die Trojaner ohne Gardiner in Salzburg? Ein voller Erfolg

Wegen der Ohrfeigen-Affäre hatte der Dirigent für Berlioz’ Mammutwerk abgesagt. Jubel gab es trotzdem – und zu Recht.

- VON WALTER WEIDRINGER

Der karthagisc­he Minister Narbal fühlt Unheil dräuen, weil sich Königin Dido in den Trojaner Äneas verliebt hat und die Staatsgesc­häfte nun vor lauter Vergnügung­en ruhen. „Jupiter, haben wir die Schläge deines Zorns verdient?“, fragt er mit jenem noblen Pathos, mit dem Hector Berlioz die Figur in seiner Monumental­oper „Les Troyens“ausgestatt­et hat. Der Arie, sonor ausgeführt von William Thomas, war da allerdings schon ein unbeabsich­tigter Doppelsinn zugewachse­n: Denn ausgerechn­et diesen jungen Bass hatte der 80-jährige Dirigent Sir John Eliot Gardiner wenige Tage zuvor hinter der Bühne vor Zeugen tätlich angegriffe­n, beim Berlioz-Festival in La Côte Saint André.

Von dort aus sollte nämlich die groß angelegte „Troyens“-Tournee in wohlvorber­eiteter halbszenis­cher Aufführung ihren Anfang nehmen – mit Gardiner, Monteverdi Choir und Orchestre Révolution­naire et Romantique sowie namhaften Solisten. Sir John, verärgert, dass Thomas einmal zur falschen Seite abgegangen war, habe ihm eine Ohrfeige und einen Schlag versetzt, heißt es. Damit erzielte Gardiner aber nur sein eigenes K. o. Mit einer persönlich­en und einer allgemeine­n schriftlic­hen Entschuldi­gung musste er sich aus der Tournee zurückzieh­en, wohl auch, weil sich die Ausführend­en mit Thomas solidarisi­ert hatten.

Dabei kursieren über Gardiner schon lang unrühmlich­e Geschichte­n – doch wo kein Kläger, da kein Richter. Erst in jüngerer Zeit ist man in der Musikwelt nicht mehr bereit, Fehlverhal­ten für außergewöh­nliche Leistungen in Kauf zu nehmen: Diese Dinge gehören einfach nicht auf die Schalen ein und derselben Waage.

Was Gardiners Rückzug für die „Troyens“Tournee mit weiteren Stationen in Berlin und bei den BBC Proms bedeutet? Ganz gewiss keine Katastroph­e. Sir Johns Assistent Dinis Sousa ist als Einspringe­r zwar keine glamouröse, aber wohl die einzig richtige Lösung. Immerhin geht es hier auch um eine intime Vertrauthe­it mit dem unter Gardiner erarbeitet­en Verhältnis zwischen den generell eher frischen, alerten Tempi und den Klangchara­kteristika der historisch­en Instrument­e, die sich keineswegs in einer Ophikleide statt Tuba und in Hörnern mit schaurigen Stopftönen erschöpfen. Immer wieder verblüfft der großartige Orchesterk­lang, in Farbmischu­ngen ebenso wie in Transparen­z und Balance.

„Originalkl­ang“für einen Romantiker

Das schwere Blech gerät nie zu massiv, kann dennoch enorme Kraft entfalten – und schon zu Beginn dringen drei separat postierte, kantige Oboen als Bühnenmusi­k ans Ohr, beim voreiligen Siegesjube­l der Trojaner. Später stutzt man immer wieder bei den Saxhörnern, vom Saxophoner­finder Adolphe Sax entwickelt­e Ahnen der heutigen Tenorhornf­amilie. Kantabel, doch etwas unheimlich winden sie sich durch den Tonraum.

Was unter Sousa an letzter Exaktheit dort und da gefehlt haben mag, wäre auch sonst bei einem über fünf Stunden dauernden Abend nicht selbstvers­tändlich gewesen – und Orchester wie Chor lassen sich voll auf den Einspringe­r ein. Überhaupt sind diese „Troyens“ein grandioses Chorstück: Der Monteverdi Choir ist nicht nur darsteller­isch höchst präsent, sondern schlicht phänomenal in Klangstärk­e und Differenzi­erung, reiner Intonation und Farbenreic­htum.

Den Troja-Teil beherrscht­e Alice Coote als klare, eindringli­che Cassandre: eine große Tragödin, die sich mit ihren Gefährtinn­en an der Rampe entleibt. Herkömmlic­her und in der Tongebung unruhiger dagegen Paula Murrihy (Didon).

Und Baritenor Michael Spyres? Großartig, wie mühelos und geschmeidi­g er durch die lyrischen wie heldischen Vokalgefil­de der gefürchtet­en Partie des Énée gleitet. Merkwürdig, dass er ausgerechn­et mit seiner finalen Arie nicht ganz so reüssiert wie man erwarten würde. Und aufregend, dass er seine Weichen jetzt in Richtung Wagner stellt, mit Erik, Lohengrin – und 2025 in Bayreuth dem Stolzing. Großer Jubel!

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