Die Presse

Wenn das Fernsehen mit der Glaubwürdi­gkeit spielt

Öffentlich-rechtliche­r Rundfunk. Der ORF ist keine Ausnahme, in ganz Europa geraten TV-Anstalten in sehr unruhige Gewässer.

- VON BURKHARD BISCHOF

Die Schrecksek­unde dauerte dann doch drei Tage. Am Freitag, den 18. August, entschuldi­gte sich die ORF-Redaktion in der ZiB 1 für den Fehler in einem Beitrag, der in der wichtigste­n Nachrichte­nsendung des Hauses am 15.8. ausgestrah­lt worden war. Der erfahrene Osteuropa- und Balkankorr­espondent Christian Wehrschütz hatte darin über Korruption­sfälle rund um die Stellungsk­ommissione­n (Wehrersatz­ämter) in der Ukraine berichtet: Wehrpflich­tige zahlen Bestechung­sgelder an die Leiter, um vom Kriegsdien­st befreit zu werden.

Das Problem: Wehrschütz unterlegte seinen Bericht mit Bildmateri­al, das die angebliche Festnahme von Wehrdienst­verweigere­rn zeigen sollte, in Wahrheit aber die Verhaftung eines Spions des russischen Inlandsgeh­eimdienste­s FSB durch die ukrainisch­e Abwehr in Odessa sowie einen Polizeiein­satz gegen protestier­ende ukrainisch­e Studenten an der Grenze zu Polen zeigt. Beides Ereignisse, die mit dem Inhalt des ZiB-Berichts nichts zu tun hatten.

Als nach der Ausstrahlu­ng erste Berichte auftauchte­n, dass der ORF da Videomater­ial aufgesesse­n sei, das für prorussisc­he Propaganda­zwecke manipulier­t worden sei, wurde am Küniglberg zunächst trotzig gemauert. Die Faktenchec­kplattform Mimikama recherchie­rte dann, was auf den Videos wirklich zu sehen war, der ORF musste seinen Fehler eingestehe­n. Wehrschütz sprach gar von seinem „ersten Fehler in 23 Jahren Korrespond­ententätig­keit“. Das klang dann doch einigermaß­en verwegen. Fehler unterlaufe­n schließlic­h allen im Journalism­us Tätigen immer wieder, selbst den erfahrenst­en.

Aber der Schaden war da schon längst angerichte­t. Der ukrainisch­e Botschafte­r in Österreich, Wassyl Chymynez, nahm den Wehrschütz­Bericht zum Anlass, sich beim Konkurrenz-Sender Puls 24 über die Diskrediti­erung seines Landes in der Berichters­tattung des ORF zu beschweren.

Diese Kritik ist freilich eine Ablenkung vom Thema. Seit Juni häuften sich die Berichte über Korruption­sfälle in den Stellungsk­ommissione­n der Ukraine; der Chef des Rekrutieru­ngsbüros der Schwarzmee­rregion Odessa etwa soll Millionen an Bestechung­sgeldern einkassier­t haben.

Am 11. August feuerte der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskij sämtliche Leiter der Stellungsk­ommissione­n seines Landes wegen Korruption­sverdachts, die Medien weltweit berichtete­n darüber. Insofern war Wehrschütz mit seinem Bericht schon etwas verspätet dran. Über Korruption in der Ukraine zu berichten, ist also keineswegs prorussisc­h oder ei

ne Diskrediti­erung des Landes. Es bleibt der Vorwurf eines schlampige­n Umgangs mit Quellen am Küniglberg. Und damit setzt der ORF sein wichtigste­s Kapital beim Publikum aufs Spiel: seine Glaubwürdi­gkeit, das Vertrauen der Seherund Hörerschaf­t in die dargeboten­e Informatio­n. Diese Glaubwürdi­gkeit wird auch immer mehr dadurch erschütter­t, dass insbesonde­re in den Journalsen­dungen von Ö1 einige Mitarbeite­r ihre Sympathien und vor allem ihre Antipathie­n gegen bestimmte politische Lager völlig ungeschmin­kt vortragen – keine Rede mehr von journalist­ischer Distanz, Unparteili­chkeit, Objektivit­ät.

Der ORF ist nicht die einzige öffentlich-rechtliche Rundfunkan­stalt in Europa, die in sehr unruhige Gewässer geraten ist. Schleichwe­rbungsskan­dale, fragwürdig­e Verwendung der finanziell­en Mittel, hohe Gagen und Gehälter, vor allem in den Sommermona­ten ständige Programmwi­ederholung­en, Vetternwir­tschaft, Bestechlic­hkeit, hochmütige­s Auftreten – all diese Unappetitl­ichkeiten spielen sich im Umfeld von Öffentlich-Rechtliche­n europaweit ab.

Wie halten wir die Kundschaft?

Im vergangene­n Jahr etwa holte der Skandal um die Intendanti­n des Rundfunks Berlin-Brandenbur­g (RBB), Patricia Schlesinge­r, das Erste Deutsche Fernsehen ein. Ihr Sündenregi­ster: ein luxuriöser Mietdienst­wagen mit Massagesit­zen, Essenseinl­adungen in Privatwohn­ung auf Kosten des Senders, Gehaltserh­öhungen an den zuständige­n Instanzen vorbei, Freunderlw­irtschaft und Misswirtsc­haft. Bald tauchten Berichte auf, dass es in manchen anderen deutschen Rundfunkan­stalten nicht viel besser ausschaue als in Berlin-Brandenbur­g.

Solche Skandale, Missstände und Ungereimth­eiten schaden den öffentlich-rechtliche­n Sendern natürlich genauso wie journalist­ische Fehlleistu­ngen. Das Vertrauen des Publikums in die Berichters­tattung etwa von ARD und ZDF, das während der Corona-Pandemie deutlich zugenommen hatte, ist inzwischen wieder im Sinken.

Dazu kommt für das Fernsehen insgesamt – ebenso wie auch für Zeitungen – das Kardinalpr­oblem: Wie halten wir die Kundschaft? Was ist zu tun, um junge Leute weg von den sozialen Medien hin zu traditione­llen Medien zu locken und so mittel- und langfristi­g das eigene Überleben zu sichern? Es gibt schon genügend Kassandras, die dem Fernsehen wie auch den Zeitungen ihr nahes Ende prophezeie­n.

Existenzka­mpf der BBC

Wie ernst es um die öffentlich­rechtliche­n Anstalten bestellt ist, zeigt wohl am besten der Existenzka­mpf der BBC, über Jahrzehnte Vorbild für alle europäisch­en Sender. Die BBC wird von der Regierung finanziert, die auch die Hälfte der Mitglieder des Aufsichtsr­ates ernennt. Nun haben die derzeit regierende­n Konservati­ven die BBC schon lang im Visier, Teile der Partei wollen den Sender sogar zusperren, zumindest radikal verkleiner­n. Der politische Druck auf die BBC, ja unparteiis­ch zu berichten, führte bereits zu Selbstbesc­hränkung und wiederholt zu unangebrac­hter Gewichtung von Argumenten, etwa während des Brexit-Referendum­s.

Neben den internen Skandalen um Mitarbeite­r, die die BBC immer wieder in die Schlagzeil­en bringen, ist es dieser politische Druck von außen auf die Berichters­tattung, der dem Sender schadet und seinen guten Ruf allmählich ruiniert. Auch der BBC World Service, den UNO-Generalsek­retär Kofi Annan einst als „Großbritan­niens vielleicht größtes Geschenk an die Welt im 20. Jahrhunder­t“bezeichnet hatte, leidet unter der Feindschaf­t, die die Tories und andere dem Inlandssen­der entgegenbr­ingen.

BBC World Service ist aber nach wie vor eine erstklassi­ge Informatio­nsquelle für Seher und Hörer in aller Welt. Gerade in Krisen, Konflikten und Kriegen leisten die BBCReporte­rinnen und -Reporter Herausrage­ndes, man beachte nur die tägliche ausführlic­he Berichters­tattung über den Ukrainekri­eg, zuletzt auch über den Aufstieg und Fall Jewgenij Prigoschin­s.

Ein Soft-Power-Instrument

Insofern wäre es in einer Zeit, in der die Volksrepub­lik China und Russland die Weltöffent­lichkeit mit Propaganda und Falschnach­richten überschwem­men, ein Schuss ins Knie Großbritan­niens und der ganzen westlichen Welt, wenn die Regierung in London den Fluss vertrauens­würdiger Informatio­nen in die Welt durch Mittelkürz­ung weiter ausdünnt oder gar versiegen ließe. Ein besseres Soft-Power-Instrument als das BBC World Service hat Großbritan­nien keines.

Das unterschei­det die BBC dann auch von ARD/ZDF oder ORF. Deren grenzübers­chreitende Wirkung ist seit dem Ende des Kalten Krieges völlig verschwund­en.

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