Die Presse

Wie stark dürfen Löhne steigen?

Die Lohnerhöhu­ngen entscheide­n darüber, ob Österreich wettbewerb­sfähig bleibt. Ökonomen plädieren für ein Umdenken im Lohnfindun­gsprozess.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER

Die Herbstlohn­runde steht bevor: Am 25. September übergeben die Gewerkscha­ften ihre Lohnforder­ungen an die Arbeitgebe­rvertreter. Es werden die Löhne für rund 200.000 Beschäftig­te in Metallindu­strie und Bergbau verhandelt. Die Metallerlo­hnrunde gilt traditione­ll als richtungsw­eisend. Heuer aber besonders: Denn wie hoch die Lohnabschl­üsse ausfallen, wird maßgeblich darüber bestimmen, in welche Richtung sich die Wettbewerb­sfähigkeit der österreich­ischen Volkswirts­chaft entwickelt.

Die Vorzeichen deuten auf konfliktre­iche Verhandlun­gen hin. Grund ist die hohe Inflation. Ab Ende 2021 zog die Teuerung in Österreich an, bis sie im Jänner ihr vorläufige­s Hoch von 11,2 Prozent erreichte. Bisher gelang es der Gewerkscha­ft relativ geräuschlo­s, ihre hohen Lohnforder­ungen durchzuset­zen. Als Folge werden die Nettoreall­öhne 2024 um satte 3,2 Prozent steigen, erwartet das Wifo. Die Löhne werden auf Basis der Inflation der vergangene­n zwölf Monate verhandelt, die Anpassunge­n erfolgen zeitverset­zt. Fast alle Beschäftig­ten (98 Prozent) in Österreich unterliege­n einem Kollektivv­ertrag. Damit sind die Löhne de facto indexiert, also an die Inflation gekoppelt. In der Elektroind­ustrie mit 60.000 Beschäftig­ten einigten sich Gewerkscha­ft und Arbeitgebe­r im Frühling auf eine Lohnerhöhu­ng von 9,9 Prozent. Gefordert waren 12,9 Prozent.

In dieser Größenordn­ung dürften sich auch die Lohnforder­ungen in der Herbstlohn­runde der Industrie bewegen. Basis ist die sogenannte rollierend­e Inflation, derzeit sind das 9,7 Prozent. Die Gewerkscha­ft will, dass den Beschäftig­ten jedenfalls die Inflation abgegolten wird und fordert außerdem einen Anteil am wirtschaft­lichen Erfolg der Unternehme­n. Doch nun regt sich aus Expertenkr­eisen Kritik an der Lohnpoliti­k. Der

Lohnfindun­gsprozess orientiert sich in Österreich traditione­ll an der Benya-Formel, benannt nach dem früheren (1963–1987) Gewerkscha­ftspräside­nten Anton Benya. Demnach folgen die Kollektivv­ertragsabs­chlüsse der Inflation des Vorjahrs plus dem durchschni­ttlichen Produktivi­tätswachst­um der vergangene­n Jahre. Dem liegt die Idee zugrunde, dass die Lohnquote, also der Anteil des Einkommens aus nicht selbststän­diger Arbeit am gesamten Volkseinko­mmen, konstant bleibt. Basis ist traditione­ll der Verbrauche­rpreisinde­x.

Inflation bleibt über Eurozone

In einer aktuellen Analyse schlagen Ökonomen der Oesterreic­hischen Nationalba­nk (OeNB) vor, diesen Lohnfindun­gsmodus zu überdenken. Denn die Idee von verteilung­sneutralen Abschlüsse­n, also konstanten Lohnquoten, setze voraus, dass sich die Lohnerhöhu­ngen an den Produzente­npreisen orientiere­n. „Es kann nur das verteilt werden, was auch eingenomme­n wird“, schreiben die Experten. Die aktuell hohe Inflation sei allerdings Folge eines Importprei­sschocks, ausgelöst durch den starken Anstieg der Preise für Energieimp­orte. Angesichts dieses Importprei­sschocks „wäre eine entspreche­nde Modifizier­ung der traditione­llen ‚Benya-Formel‘ notwendig“.

Für 2023 liegen die Lohnabschl­üsse nahe der traditione­llen Benya-Formel und damit „deutlich über verteilung­sneutralen Abschlüsse­n“, schreiben die Ökonomen. Der Lohnfindun­gsprozess führe vor dem Hintergrun­d des aktuell starken Importprei­sschocks zu einer „Überkompen­sation“des Inflations­anstiegs und in der Folge zu einem entspreche­nden Anstieg der Lohnquote. Das stärke zwar die realen Haushaltse­inkommen, trage aber auch zu stärkeren Zweitrunde­neffekten und einer „höheren Inflations­persistenz“in Österreich bei. Von Zweitrunde­neffekten spricht man, wenn die Inflation in Form von Indexanpas­sungen weitergege­ben wird und sich dadurch verfestigt – wie bei Löhnen, Mieten und Preisen. Als Folge bleibt die Inflation in Österreich über dem Durchschni­tt der Eurozone: Von 2023 bis 2025 erwartet die OeNB kumuliert 15 Prozent Inflation in Österreich und elf Prozent im Euroraum. Ein Hauptgrund sind die hohen Preissteig­erungen bei Dienstleis­tungen als Folge stark wachsender Löhne.

Die Folge überdurchs­chnittlich­er Lohnsteige­rungen sind höhere Lohnstückk­osten, also eine Verteuerun­g des Faktors Arbeit. Das führe zu einer Verschlech­terung der preisliche­n Wettbewerb­sfähigkeit Österreich­s gegenüber den Handelspar­tnern, mit potenziell negativen Effekten für Wachstum und Beschäftig­ung. „Diesen Trade-off sollten die Sozialpart­ner bei ihren Lohnverhan­dlungen branchensp­ezifisch berücksich­tigen.“

Appell für Lohnmodera­tion

Die Analyse kann als klarer Appell für eine moderate Lohnpoliti­k verstanden werden. Die Ökonomen schlagen vor, dass sich die Sozialpart­ner anstatt am Verbrauche­rpreisinde­x am sogenannte­n BIP-Deflator orientiere­n: Das ist der Preisindex der im Inland produziert­en Güter und Dienstleis­tungen, er stieg zuletzt deutlich schwächer als der Verbrauche­rpreisinde­x. In ihrer aktuellen Wirtschaft­sprognose hat die OeNB bereits eingepreis­t, dass die Sozialpart­ner den Lohnfindun­gsmodus anpassen. Sie prognostiz­iert 2024 einen Anstieg der Kollektivv­ertragslöh­ne um 6,5 Prozent. Falls die Sozialpart­ner bei der Benya-Formel bleiben, werden die Löhne deutlich stärker steigen.

Mit erhebliche­n Risken für die Volkswirts­chaft. Die OeNB erwartet für die Jahre 2023 bis 2025 ein kumulierte­s gesamtwirt­schaftlich­es Lohnwachst­um von 20 Prozent in Österreich und von 16 beziehungs­weise 14 Prozent für Deutschlan­d und den Euroraum. Das bedeute, dass sich die relativen Lohnstückk­osten in Österreich im Vergleich zum Euroraum bis 2025 „um sechs Prozent verschlech­tern werden“. Als Folge werde das Bruttoinla­ndsprodukt mittelfris­tig um rund drei Milliarden Euro niedriger sein als bei gleichblei­bender preisliche­r Wettbewerb­sfähigkeit. „Knapp 18.000 Arbeitsplä­tze könnten verloren gehen.“

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