Warum „Jedermann“aus Salzburg nicht verschwinden darf
Die heurige Bilanz der Festspiele kann sich sehen lassen. Doch das ist nicht der wichtigste Grund dafür, dass sie ihrer Substanz treu bleiben sollten.
Jedes Jahr, wie die Rufe auf dem Domplatz, erschallen auch Rufe von feuilletonistischen Kanzeln: Hofmannsthals „Jedermann“sei anachronistisch, müsse „revidiert“, wenn nicht gar abgesetzt werden. Dagegen nur mit der Beliebtheit des angeblich „hölzernen“Stücks – die, wie man in den letzten Jahren gesehen hat, offenbar auch durch die hölzernsten Regieideen nicht vergeht – zu argumentieren griffe zu kurz. Ein Canceln des „Jedermann“wäre ein sinnloser Angriff auf die Substanz der Festspiele. Und vergleichbar mit dem Entfernen von Klimts „Kuss“aus dem Belvedere oder der Venus von Willendorf aus dem Naturhistorischen Museum. Oder einer Umwidmung der Bayreuther Festspiele auf, sagen wir, Verdi.
Der Vergleich mit Bayreuth ist naheliegend und aufschlussreich. Die beiden Festspiele spielen, was Glanz und – kulturelle wie ökonomische – Bedeutung anlangt, in einer eigenen Liga, in die aufgenommen zu werden kein anderes Festival im deutschen Sprachraum erträumen kann. Das liegt auch daran, dass sie ihrer Substanz treu bleiben. Die in Bayreuth radikal eingeschränkt ist: zehn Werke eines einzigen Komponisten, das kann man wohl Kanon nennen. Der Begriff mag in Verruf geraten sein, er hat aber seine Berechtigung: Kultur ist – auch – Festhalten am Bewährten, am Erprobten.
Wobei der Kanon der Werke in Salzburg sehr wohl laufend geprüft und erweitert wird, nicht erst, seitdem Markus Hinterhäuser Intendant ist. Doch er pflegt diese Tradition der Erneuerung sehr erfolgreich. Einmal ehrlich, welcher nicht auf neuere E-Musik spezialisierte Mensch kannte vor dem Sommer 2021 Luigi Nonos „Intolleranza“? Und wer vor 2023 Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“? Diese Opern liefen nicht in Nebenschienen, sondern vor Tausenden Menschen in der Felsenreitschule, gleichberechtigt mit längst kanonischen Werken der Klassik und Romantik.
Diese übrigens in Inszenierungen, denen niemand mangelnde Originalität vorwerfen kann. Eher im Gegenteil: Die Überfrachtung mit Assoziationen – bis hin zum Ödipus im „Macbeth“– wurde manchen Kennern bisweilen zu viel. Freilich: Wer den aktuellen „Ring“in Bayreuth gesehen hat, mit dem Rheingold als Kind, den Walküren als Tussis in der Schönheitschirurgie und so weiter, weiß, dass es noch viel sinnstörender geht. Zynisch könnte man sagen, dass Katharina Wagner und ihr Team etwas hilflos versuchen, so auf gefühlten Modernisierungsdruck zu reagieren, da ja ihr Repertoire tatsächlich ziemlich eingeschränkt ist.
Das ist es in Salzburg nicht. Dort erweitert man den Kanon sinnvoll. Und behutsam. Wie peinlich Anbiedern an vermeintlichen Massengeschmack sein kann, hat „Westbam Meets Wagner“bei den heurigen Osterfestspielen gezeigt. All jenen, die den Salzburger Festspielen alljährlich vorwerfen, zu wenig „gewagt“, „mutig“oder „radikal“zu programmieren, kann man kühl entgegnen: Wagemut ist durchaus nicht die wichtigste Qualität eines Kulturfestivals. Und Radikalität kann arg in die Irre leiten, wie man aus der politischen Geschichte gelernt haben sollte. Die Festspiele hätten einen „reaktionären Kern“, erklärte ein sonst besonnener Kommentator im „Falter“, sie seien nämlich „als Bollwerk gegen die Moderne“gegründet worden: „barockes Mysterienspiel gegen bolschewikische Avantgarde“. Vor diese Wahl gestellt, entscheidet man sich doch lieber für das Erstere…
Gut, das mag polemisch sein. Bleiben wir bei der Kultur. Es gibt in Österreich wie im gesamten deutschen Sprachraum sehr viele Kulturfestivals, die sich programmatisch dem Neuen, dem (angeblich) Experimentellen, Kompromisslosen, Radikalen widmen, mit mehr oder – öfter – weniger Publikumserfolg. Es soll sie geben, sie sollen weiter öffentlich unterstützt werden. Doch es wäre absurd, die Salzburger Festspiele an den ohnehin schwankenden Idealen solcher Nichtwirklich-Konkurrenz auszurichten. Die routinemäßig, manchmal rauer, manchmal liebenswürdiger, die sogenannte Hochkultur hinterfragt.
Auch das soll sie tun, aber auch dazu muss es diese Hochkultur weiterhin geben. In höchster, repräsentativer Qualität. In Salzburg, wo sonst?