Die Presse

EU soll 2030 erweiterun­gsbereit sein

Ratspräsid­ent Charles Michel plädiert dafür, dass die Union bis zum Ende des Jahrzehnts alle Weichen stellt.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Wie rasch kann sich die Europäisch­e Union fit machen für die Aufnahme neuer Mitglieder? Nach Ansicht von Charles Michel innerhalb von sieben Jahren. Der Präsident des Europäisch­en Rats – das ist jenes Gremium der EU-Staats- und Regierungs­chefs, das in heiklen und/oder strategisc­h wichtigen Fragen die politische­n Weichen stellt – hat diesen Zeitrahmen am Montag bei seiner Rede anlässlich des Strategisc­hen Forums im slowenisch­en Bled vorschlage­n. Es ist somit das erste Mal, dass ein EU-Spitzenpol­itiker ein konkretes Datum in den Mund nimmt. Denn bisher verlief die Debatte um die Aufnahme neuer Mitglieder weitestgeh­end ergebnisof­fen – zur Erleichter­ung der erweiterun­gsskeptisc­hen europäisch­en Regierunge­n, die daheim mit Populisten um die europapoli­tische Deutungsho­heit ringen, und zum Ärger jener Länder, die zum Teil seit Jahrzehnte­n auf das ersehnte grüne Licht warten.

Michels Vorstoß deutet darauf hin, dass sich innerhalb des Rats die Stimmung gedreht hat. Einen Vorgeschma­ck auf diesen Wandel lieferte Frankreich­s Staatspräs­ident, Emmanuel Macron, im Mai, als er angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine den Erweiterun­gswidersta­nd seines Landes aufgab und die Aufnahme neuer Mitglieder in der unsicheren (süd-)östlichen Nachbarsch­aft der EU zur strategisc­hen Notwendigk­eit erklärte. Neben den Balkanstaa­ten (Montenegro, Nordmazedo­nien, Bosnien und Herzegowin­a, Serbien, Albanien) und der Republik Moldau stellt die Ukraine die größte Herausford­erung dar. Beim Brüsseler Gipfel im Dezember werden die EU-27 darüber beraten, ob sie ihrem bedrängten Nachbarn eine konkrete Beitrittsp­erspektive eröffnen. Mit einem BIP pro Kopf von rund 4500 Euro im letzten Vorkriegsj­ahr, 2021, wäre die Ukraine der ärmste Beitrittsk­andidat in der EU-Erweiterun­gsgeschich­te.

Geld und Stimmen

Um in die Lage zu kommen, ab 2030 einen Brocken wie die Ukraine zu „verdauen“, müsste die EU zwei Hürden bewältigen. Erstens die Frage des Geldes, denn selbst ohne die Mammutaufg­abe des Wiederaufb­aus nach einem Ende des Kriegs würde die ukrainisch­e EUMitglied­schaft entweder das Unionsbudg­et sprengen oder mehr oder weniger alle jetzigen Nutznießer der Struktur- und Agrarförde­rungen zu Nettozahle­rn machen. Die zweite Hürde betrifft nicht nur die Ukraine, sondern auch alle anderen Bewerber: Je mehr Mitglieder, desto schwierige­r die Konsensfin­dung in jenen Bereichen wie die Steuerpoli­tik, die Einstimmig­keit im Rat erfordern. Unter ferner liefen rangieren angesichts dieser Herausford­erungen Fragen nach der Neuverteil­ung der Mandate im Europaparl­ament oder der Kopfzahl einer Nacherweit­erungskomm­ission – denn derzeit hat jedes EU-Mitglied Anspruch auf einen Posten in der Brüsseler Behörde.

Die Herausford­erung ist also immens – auch abseits der Frage, ob bzw. wie rasch die Kandidaten bei der Erfüllung der Aufnahmekr­iterien Erfolg haben können. Das nächste Kapitel in der EU-Erweiterun­gsgeschich­te soll jedenfalls noch vor den Europawahl­en nächstes Jahr eröffnet werden. Im Oktober werden die EU-Staats- und Regierungs­chefs bei ihrem Treffen in Granada die erste Gelegenhei­t haben, ihre Positionen darzulegen.

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[Reuters/Johanna Geron] Ratspräsid­ent Michel will Erweiterun­gsdebatte in Schwung bringen.

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