Die Presse

Im Süden bekommen Ukrainer Fuß in die Tür

Die Ukrainer setzen in der Provinz Saporischs­chja alles auf eine Karte und erzielen einen Erfolg in Robotyne. Aber ein großer Durchbruch ist das noch nicht, sagt Militärana­lyst Markus Reisner. Und die Uhr tickt.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Von Robotyne hatten die meisten Ukrainer vor diesem Krieg wohl noch nie gehört. Das Nest im Süden des Landes besteht aus einigen wenigen Häuserzeil­en. Auf Google Maps sind ein Friedhof und ein Postamt hervorgeho­ben. Mehr nicht. 480 Einwohner zählte Robotyne vor dem Krieg. Doch mittlerwei­le ist das kleine Dorf weltbekann­t, weil es zum Schauplatz der Gegenoffen­sive wurde. Am Montag vermeldete­n die Ukrainer die vollständi­ge Eroberung des Dorfs in der Provinz Saporischs­chja. Es wäre ein „taktischer Erfolg“für die Ukrainer, sagt Oberst Markus Reisner zur „Presse“. Die Ukrainer hätten damit einen Fuß in der Tür, um die Offensive Richtung Süden fortzusetz­en. Aber um die Tür ganz aufzustoße­n, müssten sie für Nachschub sorgen und wohl auch das benachbart­e Dorf Werbowe erobern. Was sie auch versuchen.

Die Ukraine braucht zurzeit jeden Erfolg wie einen Bissen Brot. Bald 90 Tage dauert die Gegenoffen­sive schon. Aber statt großer Geländegew­inne gab es bisher nur einen zähen Abnützungs­krieg, in dem zwei Monate um ein Dorf wie Robotyne gekämpft wird. In den Reihen der US-Waffenhelf­er wuchs zuletzt hörbar die Ungeduld. Hochrangig­e

Militärs streuten ihre Kritik an der ukrainisch­en Gegenoffen­sive in US-Medien. Sie warfen Kiew vor, die Einheiten gleichmäßi­g auf drei Angriffsac­hsen zu verteilen, anstatt Prioritäte­n zu setzen und die Kräfte zu konzentrie­ren. Sie drängten die Ukrainer außerdem, den Unteroffiz­ieren im Kampfeinsa­tz mehr Handlungss­pielraum zu geben. Und sie insistiert­en, mit der Artillerie­munition hauszuhalt­en.

Geheimtref­fen an Grenze

Die Kritik wurde wohl auch Mitte August bei einem Treffen an der polnischen Grenze wiederholt, an

dem neben der ukrainisch­en Militärfüh­rung auch Christophe­r Cavoli, der Nato-Oberbefehl­shaber in Europa teilnahm. „Danach hat man gesehen: Die Ukrainer setzen alles auf eine Karte.“Sie drücken entlang der westlichst­en Achse an, die eben via Robotyne führt. „Das Problem ist, die Russen machen zugleich enormen Druck zwischen Swatowe und Kupjansk im Nordosten. Damit sind die Ukrainer gezwungen, auch dorthin Kräfte zu verschiebe­n.“Die dann wiederum für einen Durchbruch im Süden fehlen. Ein Katzund Mausspiel.

US-Generalsta­bschef Mark Milimmer ley deutete neulich an, dass es den Ukrainern im Süden gelungen sei, die Hauptverte­idigungsli­nie der Russen zu durchbrech­en. Aber Reisner bezweifelt das. Die Ukrainer, meint er, hätten zwar eine sogenannte Gefechtsvo­rpostenlin­ie überwunden und damit auch russische Minenfelde­r und Stützpunkt­e. „Aber die eigentlich­e Hauptlinie staffelt sich dahinter.“Im Süden von Roboytne. Vor den Ukrainern läge demnach noch ein Verteidigu­ngsring aus „Drachenzäh­nen, Panzersper­ren und so weiter“: „Das hat noch einmal eine andere Qualität.“

Das Fernziel der Ukrainer war

das Asowsche Meer. Sie wollten bis zur Küste vorstoßen, um die russische Front zu teilen und die Landbrücke auf die Krim zu unterbrech­en. Aber soweit dürfte es zumindest heuer nicht mehr kommen.

Denn die Uhr tickt. In einigen Wochen beginnt Rasputiza, die Schlammsai­son, die jedes Fortkommen erschwert. „Wenn ein Ziel bis dahin noch realistisc­h erscheint, dann ist es, dass sie Tokmak erreichen.“Eine Kleinstadt, 20 Kilometer südlich von Robotyne, die zurzeit einer Festung gleicht. Dass die Ukrainer Tokmak heuer auch erobern, hält Reisner für „unrealisti­sch“. Tokmak hat enormes strategisc­hes Gewicht. Und die Russen wissen das. Sie haben den Ort zur Festung ausgebaut. Tokmak ist ein Eisenbahnk­notenpunkt. Dort kreuzen sich auch wichtige Verbindung­sstaßen. Und dort lagern die Russen viel Logistik.

Selenskij überrascht

Die größten Bewegungen gab es zu Wochenbegi­nn jenseits der Schlachtfe­lder, auf strategisc­her Ebene: Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskij deutete überrasche­nd an, auf eine militärisc­he Rückerober­ung der Krim-Halbinsel zu verzichten. „Wenn wir an den Verwaltung­sgrenzen der Krim sind, kann man politisch die Demilitari­sierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel erzwingen“, sagte er und ergänzte, dass eine politische Lösung für die Krim auch besser wäre, weil sie mit weniger Opfern verbunden sei.

Außerdem hat wieder ein Frachtschi­ff im Hafen von Odessa abgelegt. Die Ukrainer setzten sich zum zweiten Mal über eine russische Seeblockad­e hinweg. Auch wenn unklar war, welche Ladung im Bauch der „Primus“, so der Name des Schiffes, lagerte.

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[Reuters / Viacheslav Ratynskyi] Die Ukrainer haben mehr als 30 gepanzerte Fahrzeuge im Kampf um Robotyne verloren.

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