Im Süden bekommen Ukrainer Fuß in die Tür
Die Ukrainer setzen in der Provinz Saporischschja alles auf eine Karte und erzielen einen Erfolg in Robotyne. Aber ein großer Durchbruch ist das noch nicht, sagt Militäranalyst Markus Reisner. Und die Uhr tickt.
Von Robotyne hatten die meisten Ukrainer vor diesem Krieg wohl noch nie gehört. Das Nest im Süden des Landes besteht aus einigen wenigen Häuserzeilen. Auf Google Maps sind ein Friedhof und ein Postamt hervorgehoben. Mehr nicht. 480 Einwohner zählte Robotyne vor dem Krieg. Doch mittlerweile ist das kleine Dorf weltbekannt, weil es zum Schauplatz der Gegenoffensive wurde. Am Montag vermeldeten die Ukrainer die vollständige Eroberung des Dorfs in der Provinz Saporischschja. Es wäre ein „taktischer Erfolg“für die Ukrainer, sagt Oberst Markus Reisner zur „Presse“. Die Ukrainer hätten damit einen Fuß in der Tür, um die Offensive Richtung Süden fortzusetzen. Aber um die Tür ganz aufzustoßen, müssten sie für Nachschub sorgen und wohl auch das benachbarte Dorf Werbowe erobern. Was sie auch versuchen.
Die Ukraine braucht zurzeit jeden Erfolg wie einen Bissen Brot. Bald 90 Tage dauert die Gegenoffensive schon. Aber statt großer Geländegewinne gab es bisher nur einen zähen Abnützungskrieg, in dem zwei Monate um ein Dorf wie Robotyne gekämpft wird. In den Reihen der US-Waffenhelfer wuchs zuletzt hörbar die Ungeduld. Hochrangige
Militärs streuten ihre Kritik an der ukrainischen Gegenoffensive in US-Medien. Sie warfen Kiew vor, die Einheiten gleichmäßig auf drei Angriffsachsen zu verteilen, anstatt Prioritäten zu setzen und die Kräfte zu konzentrieren. Sie drängten die Ukrainer außerdem, den Unteroffizieren im Kampfeinsatz mehr Handlungsspielraum zu geben. Und sie insistierten, mit der Artilleriemunition hauszuhalten.
Geheimtreffen an Grenze
Die Kritik wurde wohl auch Mitte August bei einem Treffen an der polnischen Grenze wiederholt, an
dem neben der ukrainischen Militärführung auch Christopher Cavoli, der Nato-Oberbefehlshaber in Europa teilnahm. „Danach hat man gesehen: Die Ukrainer setzen alles auf eine Karte.“Sie drücken entlang der westlichsten Achse an, die eben via Robotyne führt. „Das Problem ist, die Russen machen zugleich enormen Druck zwischen Swatowe und Kupjansk im Nordosten. Damit sind die Ukrainer gezwungen, auch dorthin Kräfte zu verschieben.“Die dann wiederum für einen Durchbruch im Süden fehlen. Ein Katzund Mausspiel.
US-Generalstabschef Mark Milimmer ley deutete neulich an, dass es den Ukrainern im Süden gelungen sei, die Hauptverteidigungslinie der Russen zu durchbrechen. Aber Reisner bezweifelt das. Die Ukrainer, meint er, hätten zwar eine sogenannte Gefechtsvorpostenlinie überwunden und damit auch russische Minenfelder und Stützpunkte. „Aber die eigentliche Hauptlinie staffelt sich dahinter.“Im Süden von Roboytne. Vor den Ukrainern läge demnach noch ein Verteidigungsring aus „Drachenzähnen, Panzersperren und so weiter“: „Das hat noch einmal eine andere Qualität.“
Das Fernziel der Ukrainer war
das Asowsche Meer. Sie wollten bis zur Küste vorstoßen, um die russische Front zu teilen und die Landbrücke auf die Krim zu unterbrechen. Aber soweit dürfte es zumindest heuer nicht mehr kommen.
Denn die Uhr tickt. In einigen Wochen beginnt Rasputiza, die Schlammsaison, die jedes Fortkommen erschwert. „Wenn ein Ziel bis dahin noch realistisch erscheint, dann ist es, dass sie Tokmak erreichen.“Eine Kleinstadt, 20 Kilometer südlich von Robotyne, die zurzeit einer Festung gleicht. Dass die Ukrainer Tokmak heuer auch erobern, hält Reisner für „unrealistisch“. Tokmak hat enormes strategisches Gewicht. Und die Russen wissen das. Sie haben den Ort zur Festung ausgebaut. Tokmak ist ein Eisenbahnknotenpunkt. Dort kreuzen sich auch wichtige Verbindungsstaßen. Und dort lagern die Russen viel Logistik.
Selenskij überrascht
Die größten Bewegungen gab es zu Wochenbeginn jenseits der Schlachtfelder, auf strategischer Ebene: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij deutete überraschend an, auf eine militärische Rückeroberung der Krim-Halbinsel zu verzichten. „Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, kann man politisch die Demilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel erzwingen“, sagte er und ergänzte, dass eine politische Lösung für die Krim auch besser wäre, weil sie mit weniger Opfern verbunden sei.
Außerdem hat wieder ein Frachtschiff im Hafen von Odessa abgelegt. Die Ukrainer setzten sich zum zweiten Mal über eine russische Seeblockade hinweg. Auch wenn unklar war, welche Ladung im Bauch der „Primus“, so der Name des Schiffes, lagerte.