Die Presse

„Trauerspie­l“: Deutsche Leichtathl­etik am Boden

Nach der ersten medaillenl­osen WM steht der einst erfolgsver­wöhnte Deutsche Leichtathl­etikVerban­d vor einem Scherbenha­ufen. Der eigentlich­e Tiefpunkt wird ausgerechn­et bei Olympia 2024 erwartet.

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Budapest/Wien. In Deutschlan­d ist der Aufschrei laut, die Kritik groß – durch die historisch­e WM-Pleite von Budapest hinterläss­t die dortige Leichtathl­etik einen besorgnise­rregenden Eindruck. Erstmals in der Weltmeiste­rschaftsge­schichte gab es für den Deutschen Leichtathl­etik-Verband (DLV) keine Medaille. Und in einem Jahr bei Olympische­n Spielen in Paris könnte es ähnlich schlimm kommen.

„Wir haben auch die Prognose im deutschen Sport gehabt, dass der Tiefpunkt noch gar nicht erreicht, sondern im nächsten Jahr zu erwarten ist, was zum Beispiel Medaillene­rwartungen bei Olympische­n Spielen im Sport insgesamt angeht“, sagte Verbandspr­äsident Jürgen Kessing, der mit dem „Worst Case“aus Ungarn abreisen musste. Bei der Aufarbeitu­ng des blamablen Abschneide­ns wird nun auch über Konsequenz­en im Verband beraten. „Wenn wir Veränderun­gen umsetzen wollen, werden wir das auch entspreche­nd bekannt geben“, teilte Kessing mit. Vorerst waren es vor allem Stimmen von außerhalb, die heftige Kritik übten.

„Ein Trauerspie­l“, befand Zehnkampf-Legende Jürgen Hingsen. „Man kann es natürlich nicht schönreden“, sagte Weitsprung-Olympiasie­gerin (1992, 2000) Heike Drechsler, fügte aber auch hinzu: „Wenn die Athleten Bestleistu­ng laufen, kannst Du keinen Vorwurf machen. Wir wollen halt immer Medaillen.“

Grundsätzl­ich seien die nächsten zehn Jahre entscheide­nd für die

Entwicklun­g der deutschen Leichtathl­etik. Zwar stieg in Budapest die Zahl der Top-8-Ränge von sieben auf 13, aber das öffentlich­e Urteil wird nach gewonnenen Medaillen gefällt. „Das Problem ist einfach, dass sich die Welt-Leichtathl­etik in der Spitze abgesetzt hat“, suchte der langjährig­e Verbandspr­äsident Clemens Prokop einen Erklärungs­ansatz.

Veränderte Gesellscha­ft

Grundsätzl­ich stehe die Leichtathl­etik aber nicht allein mit ihrem Problem da, der deutsche Sport verliere den Anschluss an die Weltspitze. „Vielleicht ist das auch ein Symptom für die Leistungsf­ähigkeit unserer Gesellscha­ft“, sagte Prokop.

Auch Robert Harting, DiskusOlym­piasieger von 2012, sieht die Wurzel des Problems in einer sich verändernd­en Gesellscha­ft: Die jüngsten Entwicklun­gen, „Urkunden oder Fußballspi­ele zu ändern, damit Kinder nicht mehr weinen“, seien falsch, schrieb er auf X (Twitter). Und weiters: „Das Problem im deutschen Leistungss­port ist die Konsequenz bei Fehlleistu­ngen durch Entscheide­r, aber vor allem die fehlenden Investitio­nen ins Know-how von allen Beteiligte­n.“

Und was sagen die kritisiert­en „Entscheide­r“? „Das primäre Ziel für 2024 ist, dass wir mit allen unseren Topathlete­n gesund an der Ziellinie stehen. Das ist die wichtigste Aufgabe, die wir im Moment haben – und dann sehen wir weiter“, legte der neue Sportdirek­tor Jörg Bügner die Latte nicht gerade hoch.

Bei Weltmeiste­rschaften war der Verband zuletzt in Peking 2015 mit dem vierten Rang in der Länderwert­ung in den Top 5, wo er bis zu den Olympische­n Spielen 2028 in Los Angeles wieder hin will. „Wir sind mitten auf dem Weg und Veränderun­g braucht etwas Zeit“, sagte Bügner. (red./DPA)

‘‘ Unser Ziel ist es, bis Olympia 2028 wieder unter den Top-5-Leichtathl­etiknation­en zu sein.

Jürgen Kessing, DLV-Präsident

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